Reihe CineGraph Buch


Helga Belach, Wolfgang Jacobsen (Redaktion):
Richard Oswald. Regisseur und Produzent

HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN (1916)

Michael Hanisch


Auftritt eines Stars. Durch einen Zwischentitel wird er angekündigt: Conte Dapertutto - Werner Krauß vom Deutschen Theater Berlin. Der Conte betritt von hinten kommend die Szene. Er eilt zu den beiden bereits wartenden Figuren, reißt seine Arme hoch, tänzelt nach vorn, verbeugt sich. Ein Schauspieler, der seit drei Jahren zu den führenden Akteuren der berliner Reinhardt-Bühnen gehört, tritt zum erstenmal vor eine Filmkamera. Er chargiert, übertreibt unheimlich, bringt die ganze Geschichte fast in die Nähe des Schmierentheaters - als einziger des umfangreichen Ensembles übrigens, eines Ensembles, das in der Hauptsache aus erfahrenen berliner Theaterschauspielern bestand, die aber alle - im Gegensatz zu Werner Krauß - außerordentlich zurückhaltend im Einsatz ihrer Mittel sind. Trotzdem wurde dieser Schauspieler bald auch im Kino ein Star. Und die Produzenten beschäftigten ihn immer und immer wieder. Krauß spricht von 104 Filmen, in denen er in nur dreizehn Jahren, der Stummfilmperiode, gespielt hat. Die Karriere des Filmschauspielers Krauß begann 1916 mit dem Dapertutto in Richard Oswalds Film HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN. Sie endete 25 Jahre später, als er in Veit Harlans JUD SÜSS gleich mehrere Rollen spielte. Wird aber nicht auch seine Darstellung in dem antisemitischen Film der Ufa durch Übertreibung, durch Chargieren charakterisiert?

42 Jahre nach HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN, 1958, erinnerte sich Krauß in seinem Buch »Das Schauspiel meines Lebens« an seinen »Einstieg in die Filmbranche«: »Im Jahre 1916 kam der Film an mich heran, im Februar 1916. Ich wurde zu Richard Oswald bestellt, in die Friedrichstraße. (...) Ich komme herein, war aufgeregt, Film war damals was Neues - was wollen die von mir? - ,Sagen Sie, Herr Krauß, was können Sie?' - ,Alles!' sage ich. Damit war der Fall erledigt, und ich trat in die Filmbranche ein.

Ich fange in den nächsten Tagen einen Film an, der heißt HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN, nach der Oper, und da will ich, daß Sie den Dapertutto spielen.« Ich hatte keine Ahnung, wer Dapertutto war. Ich bekam einen Vertrag. - ,Sie haben drei Tage zu tun und bekommen pro Tag vierzig Mark.' Damals bekam ich am Theater im Monat vielleicht dreihundert Mark Gage, das war eine gute Zuhilfe.

Ich bekam eine dunkle Perücke, schminken konnte ich mich selbst; es war ein großer Saal aufgebaut, dort waren Erich Kaiser-Titz und Erna Morena, die guckten erstaunt, daß da einer vom Deutschen Theater kommt - hat noch nie gefilmt.

Nachdem eine Szene vorbei war, nimmt mich Richard Oswald untern Arm, er sagte von diesem Tag an nie anders zu mir als ,Kraußle', und er sagte: ,Kraußle, ich geb' Ihnen fünfzig!' - Ich bekam hundertfünfzig Mark in den drei Tagen, und ich wußte, daß Erich Kaiser-Titz mindestens hundert Mark pro Tag bekam. Ich bekam aber auch gleich einen zweiten Vertrag bei Oswald, für einen Film, der dauerte acht Tage. Damals dauerte mancher Film nur vier Tage. Er engagierte mich für zwei weitere Filme und benutzte gleich dieselben Dekorationen, da gab es eben in einem anderen Film auch einen Saal.«

Filmdebütant Krauß war 1916 immerhin schon 32 Jahre alt. Sein Regisseur Richard Oswald war 36, Lupu Pick, der ebenfalls 1913 erstmals auf der berliner Bühne gestanden hatte, im Gegensatz zu Krauß aber bereits einige Filmerfahrung besaß, war 30. Pick wurde von Oswald mit der Rolle des Museumsdirektors Spalanzani betraut.

Werner Krauß, um 1920

HOFFMANNS ERZHLUNGEN wird mit einem ungewöhnichen Bild eröffnet. Richard Oswald posiert vor dem Schillergrab. Nicht daß der Regisseur zu Beginn seines Films selbst vor die Kamera trat, war ungewöhnlich (jenes uns heute eigenartig anmutende Verfahren war damals durchaus üblich; dadurch sind uns seltene Filmaufnahmen der wichtigen Regisseure des deutschen Stummfilms erhalten), ungewöhnlich war, daß sich der Regisseur vor das Grab eines Dichters stellt, der überhaupt nichts mit der folgenden Geschichte zu tun hat.

War E.T.A. Hoffmann für Oswald nicht bedeutsam genug, dieses Posieren vor dem Schillergrab also nur Ausdruck von Geltungssucht eines ehrgeizigen Regisseurs? Geltungssucht, Protzen, das Benehmen eines Parvenu - alles Charakteristika der Filmindustrie jener Jahre. Man versuchte, die Seriosität, den kulturellen Wert des Films durch Hinweise auf andere, anerkannte Künste zu unterstreichen. Der Hinweis auf die Herkunft der Schauspieler - Werner Krauß vom Deutschen Theater, Erich Kaiser-Titz vom Lessingtheater, Lupu Pick vom Kleinen Theater - sollte gleichfalls den Wert jener Filmproduktion betonen.

Die in einem Vorspiel und drei Akten inszenierte Geschichte wird ganz wie eine Bühnenaufführung präsentiert. Die Nähe zum Theater - ein Charakteristikum von Richard Oswalds Kino - ist hier bereits deutlich zu erkennen. Eine starre Kamera in der Augenhöhe des Zuschauers registriert das Geschehen teilnahmslos. Sie ist nicht meht als »der Aufnahmeapparat«. Fast immer wird der Raum im Ganzen erfaßt - genauso wie er sich dem Theaterbesucher präsentiert. Besondere Details werden in wenigen Ausnahmefällen herausgehoben - allein dadurch unterscheidet sich das Kino vom Theater. Bewegung findet hier lediglich innerhalb des Bildes statt, vor allem durch die gleichfalls von der Guckkastenbühne bekannten Auf- und Abgänge.

Der Film HOFFMANNNS ERZÄHLUNGEN widerspiegelt in seiner formalen Konventionalität, in seiner theatergemäßen Erzählweise durchaus den Entwicklungsstand des deutschen Kinos jener Zeit. Im selben Jahr, 1916, wurde in Amerika Griffiths INTOLERANCE uraufgeführt, ein Film, der dem Kino vor allem auch formal neue Wege wies.

Richard Oswald, der durch Verwendung von Melodien von Jacques Offenbach für die Musikbegleitung an die populäre Oper erinnerte, schrieb das Szenarium seines Films zusammen mit Fritz Friedmann-Frederich. Diese Erzählungen von Hoffmann sind hier Episoden aus dem Leben eines Dichters. Irgendwo in einer deutschen Kleinstadt erlebt er Unerklärbares, Alptraumartiges. Die Geschichte ist bevölkert mit Alchemisten, die versuchen, Gold herzustellen, die aber auch Menschen »bauen«, mit Brillenhändlern, die ein Sehgerät konstruiert haben, mit dessen Hilfe Totes wieder lebendig erscheint, mit Museumsdirektoren, die ihre toten Gegenstände wie lebendige Menschen präsentieren. Es ist eine traumnahe, nie ganz zu durchschauende Welt, die Welt der deutschen Romantik. Es fehlt auch nicht an Horror-Elementen und Gruseleffekten. So, wenn Spalanzani und Coppelius bei der Konstruktion ihrer lebenden Puppe merken, da a ihnen noch die Augen fehlen und sie kurzerhand nach dem sie staunend beobachtenden jungen Hoffmann greifen ...

Dabei nutzt Oswald die technischen Möglichkeiten, die ihm das Kino bietet, geschickt aus. Drei Jahre vor Lubitschs DIE PUPPE verwendet Oswald bereits die Spiegeltechnik und läßt eine kleine Puppe lebendig werden.

Der Film verweist in seiner Thematik gleichzeitig auch auf die kommenden Filme Richard Oswalds. Horror und Phantastik waren die Bereiche, denen er sich besonders verbunden fühlte. Die Schriftsteller, deren populäre Bücher er als Basis seiner genauso erfolgreichen Filme nutzte, waren E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe, Edgar Wallace und Oscar Wilde.

HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN hatte am 25. Februar 1916 im Marmorhaus am berliner Kurfürstendamm Premiere - am gleichen Tag, wie ein anderer Oswald-Film: Im Tauentzien-Palast wurde die Komödie HAMPELS ABENTEUER mit Anna Müller-Lincke in einer Hauptrolle uraufgeführt. Oswald war Regisseur, Drehbuchautor und - wie auch für HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN - Produktionsleiter; alle weiteren Filme realisierte er dann in eigener Produktion. In diesen Tagen wurde auch die Gründung der Richard Oswald-Film GmbH bekanntgegeben. Der Aufstieg des Produzenten Oswald begann. Nur vier Tage nach der Premiere von HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN erfolgte das Einführungsverbot ausländischer Filme nach Deutschland. Der deutsche Markt war frei und geschützt für die Filme von Richard Oswald und anderen deutschen Produzenten.

Das Publikum strömte in die Kinos damals, im dritten Jahr das Weltkriegs. Am 25. Februar 1916 meldeten die Zeitungen die Erstürmung von Fort Douaumont und neue Erfolge bei Verdun. Sechs weitere Ortschaften waren besetzt, 10 000 Gefangene von des Kaisers Soldaten gemacht worden. Und vier Tage vor der Premiere des Films debattierte das Preußische Abgeordnetenhaus über die Zensur. Man wetterte gegen Filme und Bücher, die in jenen »ernsten Zeiten« das Volk erreichten. Vor allem über den »moralischen Tiefstand« der italienischen Literatur empörte man sich. Gabriele d'Annunzio wurde als »Bänkelsänger des italienischen Verräterkrieges« denunziert. Die Abgeordneten des Zentrums schüttelten sich regelrecht, als bekannt wurde, daß eine Zeitung den im Lazarett liegenden »braven Feldgrauen« Boccaccios »Decamerone« als Lektüre empfohlen hatte. Die Abgeordneten der SPD und der polnischen Fraktion forderten vergeblich die Aufhebung der Zensur in Preußen.

Der Lebensstandard der Deutschen sank in jenen Jahren rapid. Die Preise für Lebensmittel stiegen, man ging mit Brot- und Butterkarten einkaufen. Erfolge von der Front konnten immer seltener gemeldet werden. Längst war die Euphorie der ersten Kriegswochen einer bedrückenden Apathie gewichen. Die Theater und Kinos, die gesamte Unterhaltungsindustrie war gefordert. Sie mußte im großen Ausmaß die Menschen von ihrem tristen Alltag ablenken. In der Volksbühne am Bülowplatz stellte Reinhardt seine neue Inszenierung von »König Ödipus« mit Paul Wegener und Eduard von Winterstein als Kreon vor, im Königlichen Schauspielhaus spielte Tilla Durieux in Karl Schönherrs »Erde«, im Kleinen Theater wurde Eulenbergs »Münchhausen« mit dem soeben aus dem Heer entlassenen Paul Bildt in der Titelrolle und Lupu Pick in der Rolle seines Dieners aufgeführt. Im Kino versuchte man zwar noch mit »patriotischen Lichtspielen« wie MIT HERZ UND HAND FÜRS VATERLAND Stimmung zu machen; doch weitaus erfolgreicher waren Filme wie HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN oder auch ein Lustspiel wie Ernst Lubitschs WO IST MEIN SCHATZ?.


Inhaltsübersicht
Andere Bände
der Reihe CineGraph Buch