Reihe CineGraph Buch
Johannes Roschlau
(Red.)
Träume in Trümmern
Film -
Produktion und Propaganda
1940-1950Johannes Roschlau:
Kino im Ausnahmezustand
Die Frau meiner Träume
(D 1943/44, Georg Jacoby)
Quelle: Bundesarchiv-Filmarchiv
Kino im Ausnahmezustand
August 1944: Der Revuefilm DIE FRAU MEINER TRÄUME hat im Marmorhaus am Kurfürstendamm seine Uraufführung und spielt in den folgenden drei Monaten rund acht Millionen RM ein. Dezember 1945: DIE FRAU MEINER TRÄUME läuft im Marmorhaus (im britisch besetzten Teil Berlins) wochenlang vor ausverkauftem Haus und zieht bis Ende Januar 1946 eine Viertelmillion Besucher ins Kino.
Auf eskapistische Marika Rökk-Vehikel lässt sich die verbreitete Vorstellung einer »Stunde Null« nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« offenbar nicht beziehen. So drastisch die politische und gesellschaftliche Zäsur auch war, die Trümmer in den Städten blieben dieselben und die Kino-Träume auch. Die erste Hälfte der 1940er Jahre schrieb sich nicht nur in den Köpfen (und Herzen) des Publikums in die zweite fort. Die NS-Zeit war auch durch die Geschichten der Trümmerfilme, das Fortleben des »Ufa-Stils« und die weitgehende Kontinuität des Personals vor und hinter der Kamera im Kino der Nachkriegszeit präsent. Befragt man die Filme der Dekade in dieser Hinsicht auf ihre Stereotypen und Figurenkonstellationen, ihre Erzählmotive und Handlungsmuster, so fällt in erster Linie die Zählebigkeit überlieferter Genretraditionen auf. Ausprägungen, in denen sich Atmosphäre und Lebensverhältnisse des Jahrzehnts widerspiegeln, finden sich vor allem in Filmen, die sich direkt oder indirekt mit Zeitproblemen auseinandersetzten und deshalb ideologisch aufgeladen waren. Ob sich dies in versteckten Subtexten, in Handlungsanweisungen und der Präsentation von Rollenmodellen oder plumper Propaganda äußerte, auch hier setzte sich manches in Form oder Inhalt modifiziert nach 1945 fort.
Kein Wunder: Die 1940er Jahre waren eine Dekade des permanenten Ausnahmezustands zwischen zwei Phasen relativer Stabilität, über das Kriegsende und den Wechsel der politischen Systeme hinweg durchgängig geprägt von der intensiven politischen Kontrolle des öffentlichen Lebens, der Lenkung und propagandistischen Instrumentalisierung der Medien, von Mangelwirtschaft und Zerstörung der Infrastruktur und nicht zuletzt der Erfahrung von existenzieller Verunsicherung und Bedrohung des einzelnen Menschen. Warum sollten Filmschaffende nicht auch unter anderen ideologischen Vorzeichen mit in Form und Inhalt ähnliche Antworten auf die fortbestehende Krisensituation reagieren?
Aus diesen Überlegungen entstand die Idee, das Kino der Kriegszeit und der frühen Nachkriegszeit in der filmhistorischen Forschung meist separat in den Kapiteln zum NS-Film bzw. dem Kino der 1950er Jahre abgehandelt gemeinsam in den Blick zu nehmen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes beschäftigen sich auf unterschiedliche Weise mit dem Spannungsfeld von Beharrung und Neuanfang, in dem sich die Filmproduktion nach 1945 in Deutschland bewegte. Dabei untersuchen sie das Verhältnis von Brüchen und Kontinuitäten vor allem in Filmen und Genres, in denen die ideologische Wirkung und die propagandistische Indienstnahme des Mediums besonders deutlich werden.
Die Entwicklungen im dokumentarischen Bereich werden durch Texte zu den inhaltlichen und ästhetischen Strategien der Kriegs- und Nachkriegswochenschauen in Deutschland, zur Arbeit der Wochenschau-Kameraleute und zu den Traditionslinien des westdeutschen Kulturfilms beleuchtet. Eine erste institutionengeschichtliche und filmografische Annäherung an die noch kaum erforschte NS-Filmpropaganda für die Bevölkerung der besetzten »Ostgebiete« bildet hier einen weiteren Schwerpunkt. Die Beiträge zum Spielfilm stellen die Vermittlung von Rollenmodellen und Geschlechterbildern für Jugendliche und Frauen in gesellschaftlichen Ausnahmesituationen in den Mittelpunkt.
Den widersprüchlichen Umgang mit dem NS-Filmerbe nach 1945 thematisieren Texte zur alliierten Film-Kontrollpolitik und zur Präsenz der NS-Filme im Kinoprogramm bzw. des vertrauten Darsteller-Personals im Spielfilm der frühen Nachkriegszeit.
In der Zusammenschau ergibt sich ein vorläufiges Mosaik, das in seiner Widersprüchlichkeit an das aus NS-Unterhaltungsproduktionen, Trümmerfilmen und alllierten B-Pictures zusammengewürfelte Filmangebot des frühen Nachkriegs-Kinos erinnert: Ein Neben- und Miteinander von Brüchen und Kontinuitäten, Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Innovation. Diese faszinierende Gemengelage verdient weitere Detailforschungen, die einen noch differenzierteren Blick auf eine filmhistorisch zentrale Dekade ermöglichen.
Johannes Roschlau
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