FilmMaterialien 10 - Der komische Kintopp.

Ein humoristisches Stimmungsbild

aus: Lichtbild-Bühne, Nr. 54, 24.8.1912


Die Stehgreifkomödie, seit 200 Jahren mausetot, ich habe sie, so unglaublich es klingt, wieder auferstehen sehen, im modernsten Berlin, springlebend, wie der Forellenangler sagt. Den Darstellern wurde die Handlung zwar bekannt gegeben, doch der Dialog blieb den Schauspielern gänzlich überlassen. Es war in keiner Vorstellung, sondern ich hatte einer Probe beizuwohnen; es galt, den neuesten Film für eins unserer ersten Kinos fertig zu machen.

Ich betrat ein riesiges photographisches Atelier in Berlin SW., fünf Treppen hoch. Dekorationsstücke, Möbel, Pflanzenkübel und dazwischen ein Dutzend Schauspielerinnen und Schauspieler in allen möglichen Toiletten: Elegante Gesellschaftsroben, Straßenanzüge, Frack, Hemdsärmel, geschminkt oder »naturell«, bunt durcheinander. Alle jene bekannten Typen, die man von den Films der Kinos kennt. Neben der pikanten Darstellerin der Hauptrolle mit schickem Hut und melancholischem Augenaufschlag der behäbige Komiker mit der Glatze, der ebenfalls melancholisch blickt, denn die Julisonne brennt unbarmherzig durch das Glasdach. Aber trotzdem riesig bei der Sache, der geringste Fehler verzögert ja ihre Arbeit um Stunden; eine falsche Darstellungsnuance und die langwierige Aufnahme muß wiederholt werden. So suchen Regisseur und Darsteller möglichst in Stimmung zu bleiben, denn der photographische Apparat ist von einer unerbittlichen Aufmerksamkeit.

"Meine Herrschaften, ich bitte um die gespannteste Teilnahme", ruft der Regisseur; "wir probieren die große Szene nochmal; alle Blicke müssen entsetzt auf die Dame gerichtet sein. Jetzt Steigerung, noch mehr Entsetzen! Wenn Sie's durchaus wollen, machen Sie sich die passenden Worte selbst dazu. Sie kennen ja die Situation!"

Jetzt ging's los, das Extemporieren. Die Darsteller tobten durcheinander - "Erna - sie wird doch nicht - ja der Revolver - entsetzlich - sie tut es wirklich - Erna - Allmächtiger Gott, sie scheint wahnsinnig - "

"Noch mehr Anteilnahme!" schreit der Regisseur und wischt sich den Schweiß, der Glückliche! Die armen Darsteller vor dem Apparat dürfen es nicht, da tropft der Schweiß ungewischt von den entsetzt sein sollenden Gesichtern.

"Vorwärts, vorwärts!" - immer dringender wird der Regisseur - "meine Damen, mehr Seele - ich will mehr Seele sehen, Bewegung, größere Teilnahme, nicht stillestehen!"

Jetzt brichts wieder los: "Erna - sie wird doch nicht - seht doch - sie liegt am Boden - ei verflucht - entreißt ihr den Revolver!" Und dazwischen tönt's wieder vom Regiestuhl unerbittlich - "nicht stillestehen - Steigerung, lebhaft - lebhaft!"

Der behäbige Glatzkopf mit melancholischem Augenaufschlag schreit verzweifelt - "Erna, spiele nicht mit dem Schießgewehr!"

Ich drehe mich um. Und froh, daß ich kein Entsetzen zu heucheln habe, schleiche ich in eine verschwiegene Ecke, wo der Theaterfriseur hinter Dekorationsstücken ein herrliches Bier verzapft. Während ich behaglich schlürfe, tönt es immer fort: "Nicht stille stehen, mehr Empfindung, machen Sie doch die passenden Worte dazu, dann geht's leichter!"

Mir fielen die guten Stehgreifkomödianten ein, die vor 200 Jahren sich ebenfalls den Text selbst verfaßten; wieviel besser hatten sie's doch als ihre unglücklichen Kollegen von heut, die dazu bei 30 Grad auch noch unerbittlich photographiert werden.

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