FilmMaterialien 9 - Victor Trivas.

Allround-Genie Victor Trivas

Von George Freedland

(Der Text beruht auf einem von Jeanpaul Goergen mit George Freedland 1988 in Berlin geführten Gespräch. Er wurde von Freedland überarbeitet und ergänzt.)


Victor Trivas war ein Allround-Genie. Er war ein wunderbarer Maler, er war Ausstatter und Filmarchitekt, und er war ein ausgezeichneter Autor. Ich habe ihn 1931 bei den Dreharbeiten zu Fedor Ozeps DER MÖRDER DIMITRI KARAMASOFF kennengelernt. Ich war damals Ozeps Regie-Assistent und Trivas war bei diesem Film mit all seinen Fähigkeiten dabei: er hat am Drehbuch mitgearbeitet, er wirkte an den Bauten mit und beriet Ozep in allen anstehenden Fragen. Trivas war ein Energiebündel und konnte eigentlich nie still sitzen. Für mich war Trivas eines der wenigen richtigen Genies, die ich je kennengelernt habe.

Dann gingen wir mit Ozep nach Paris - Pathé hatte uns eingeladen - um die französische Version von KARAMASOFF zu drehen. Trivas war auch dabei, als Architekt für die Bauten im Gaumont-Atelier. Damit man die Totalen für diese Fassung beibehalten konnte - so zum Beispiel die wunderbar montierte Troika-Fahrt - beschloß Pathé, die Hauptrollen mit denselben Schauspielern wie in der deutschen Fassung zu besetzen. Fritz Kortner, Fritz Rasp und Anna Sten mußten daraufhin französisch lernen - bei Anna Sten hat der Akzent gar nicht gestört, sondern war im Gegenteil recht süß. Alle anderen Rollen wurden aber nochmal besetzt. Alles ging sehr gut, denn KARAMASOFF war, obschon ein Tonfilm, sehr visuell, mit einem Minimum an Dialog.

Viktor Trivas bei den Dreharbeiten zu NIEMANDSLAND (1931)

Gleich nach KARAMASOFF drehte Trivas dann seinen ersten Film als Regisseur, NIEMANDSLAND. Das Buch war natürlich auch von Trivas (ich glaube, daß Leonhard Frank kurz daran mitarbeitete, bin aber nicht sicher). Die Musik war von Hanns Eisler. Die Story ungefähr: Im Ersten Weltkrieg, nach einer Schlacht, bringt der Zufall in einem Bombenkrater vier Soldaten verschiedener Nationalitäten und einen staatenlosen Zivilisten zusammen. Keiner spricht die Sprache der anderen. Und trotzdem verstehen sie sich, angesichts der gemeinsamen Gefahren... Es war ein wirklich internationaler Film, jeder sprach seine eigene Sprache und trotzdem war der Film dem Publikum aller Länder vollständig verständlich. Die Idee der internationalen Freundschaft, die diesem Film zugrunde lag, konnte natürlich Hitler nicht gefallen. NIEMANDSLAND wurde von den Nazis als antifaschistischer Film verboten. Etwa damals schrieb Trivas auch das Drehbuch für Alexis Granowskys Film DAS LIED VOM LEBEN.

1933 oder 1934 drehte Trivas dann in Paris DANS LES RUES, einen Film, für den ihm ein bequemes Budget zur Verfügung stand. Ein Kritiker machte Trivas den Vorwurf, Pabsts FREUDLOSE GASSE imitieren zu wollen. Das war natürlich Unsinn: Pabst hatte doch kein Monopol darauf, die finsteren Straßen einer Großstadt als Sujet zu benutzen!

Der Film war damals ein Publikumserfolg und ich sah ihn wieder vor kurzem in der Pariser Cinémathèque und im französischen Fernsehen. Meiner Meinung nach ist er viel »moderner« geblieben als viele andere aus dieser Zeit.

Trivas emigrierte dann nach Amerika. Leider war er nicht der Typ, der sich in die in Amerika übliche Klassifizierung einfügen konnte, denn, mit einigen Ausnahmen, hatte damals Hollywood kein Vertrauen zu Allround-Genies. Mir ging es ähnlich, obgleich ich kein Genie bin! Wenn ich sagte: Ich führe Regie - damals waren es Kurzfilme - ich schriebe Manuskripte und sei auch Schnittmeister, bekam ich immer zu hören: »Also entweder oder - are you a director or are you an editor or are you a writer?« Trivas schrieb zwar diverse Drehbücher, so für THE STRANGER von Orson Welles, aber zu einer eigenen Regie kam er nicht mehr.

Victor Trivas starb in einer Zwei-Zimmer-Wohung in der 2nd Avenue in New York. Er war ein Individualist, der, falls er einmal einen richtigen Durchbruch gehabt hätte, einer der wenigen »Allround-one-man-filmmakers« der Geschichte des Films geworden wäre, d.h. ein Regisseur, der für alle Phasen seines Films vollständig verantwortlich ist, nicht nur für Buch und Regie (wie Ingmar Bergman und Chaplin), sondern auch für die Bauten, die Kostüme, den Schnitt, usw. ...


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