CinErotikon. Materialien zum 12. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 4. - 7. November 1999.

Wer soll einen Aufklärungsfilm schreiben?

Julius Sternheim

in: Lichtbild-Bühne, Nr. 17, 27.4.1918


Es wurde in letzter Zeit gesagt, daß Film und Presse gleichberechtigte Faktoren und Organe im Dienste der Volksaufklärung darstellen. Ich möchte weitergehen und behaupten, daß dem Film zur Propagierung eines Gedankens, zur Warnung und Aufklärung über bestehende Mißstände von rechtswegen Vorrang gebührt.

Die Plastik des Films, gegenüber dem geschriebenen Wort ist soviel unmittelbarer, und das, was wir mit eigenen Augen sehen, nehmen wir soviel inniger und nachhaltiger in uns auf, daß die übertragende Bedeutung des Films vor einer flüchtigen Lektüre auf der Hand liegt.

Wenn diese Einsicht sich trotz unbedingt beachtenswerter Versuche bis heute noch nicht recht Bahn gebrochen hat, so fällt mir unwillkürlich der Vers Matth. 22, 14 ein: »Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.«

Um einen Aufklärungsfilm zu schreiben, genügen nicht das Thema an sich und der gute Wille, genügt nicht das Protektorat der am Aufklärungsgedanken sachlich interessierten, wissenschaftlichen oder sonstigen Gesellschaften, sondern die erste und letzte Bedingung zum glücklichen Gelingen eines solchen Films ist, daß der Autor des Films sein Thema gründlich beherrscht, und zwar nicht nur theoretisch, sondern daß er vor allen Dingen praktische Erfahrungen auf dem von ihm zu bearbeitenden Gebiete besitzt, daß er aus eigener Anschauung die Schäden studiert hat gegen die er angehen will, daß er auch die psychologischen Gründe, die zum Mißstand führen, richtig erkannt hat, wertet und verwertet.

Aber auch das allein genügt nicht. Ein Schriftsteller, der es unternimmt, sich an ein so bunt zusammengewürfeltes Publikum, wie es das Kinopublikum heute nun einmal noch ist, zu wenden, muß imstande sein, den Grundton im Herzen schwingen zu machen, der allen Menschen eigen ist. Er muß - cum grano salis - Volksdichter sein; er muß ferner den sittlichen Ernst zum Thema besitzen, der der Zensurbehörde das Vertrauen einflößt, daß der Autor, von seinen Gründen getragen, auch in der - unter Umständen notwendigen - Schilderung des Gemeinen, Gutes wirken will und wird.

Um einen Vergleich aus dem praktischen Leben zu nehmen: Eine jede Operation ist schmerzhaft. Je tüchtiger der Chirurg, je besser versteht er durch eine schnelle, gewandt ausgeführte Narkose den Schmerz ins Unterbewußtsein zu verdrängen. Je geschickter der ist, je feiner wird die unvermeidliche Narbe sein, die er dem Patienten beibringen muß.

Solche Chirurgen müssen auch Autor und Regisseur sein, soll ein Aufklärungsfilm eine gelungene Operation am faulen Fleisch der heutigen Kultur darstellen.

Und wie der Assistent den Puls des Kranken während der Operation dauernd beobachtet, so müssen Autor und Regisseur dauernd Fühlung mit dem Puls ihres Publikums haben, müssen um der Idee willen mit Leib und Seele bei der Arbeit sein.

Aufklärung soll restlos sein! Keine Halbheiten dürften und sollten erlaubt oder gar geduldet werden. Entweder ein solcher Film genießt das Vertrauen, daß er Gutes wirken wird, dann muß ihm jede nur denkbare Förderung werden, oder aber es besteht die Gefahr, daß er verwirrt und durch Unvollkommenheit mehr Schaden anrichtet, als er Nutzen bringt, dann ist er zu verwerfen. Deswegen sollte ein jeder, der es unternimmt, aufklärend im Film wirken zu wollen, sich auch fragen, ob er imstande ist, nach jeder Richtung hin die Verantwortung zu tragen, die er mit einer solchen Kulturarbeit vor der großen Menge übernimmt.

Film und Presse sollen gleichberechtigte, sich ergänzende Faktoren im Dienste der Volksaufklärung sein! Der Gedanke ist unbedingt richtig, aber noch schaut die Presse den Film bedenklich über die Achsel an. Sollte da wirklich die Schuld nur auf Seite der Presse liegen? Sollten es vielleicht Konkurrenzneid oder andere selbstische Gründe sein, die die Presse veranlassen, den Film so stiefmütterlich zu behandeln.

Ich glaube, so arrogant ist kein Filmfabrikant, daß er eine solche oder ähnliche Behauptung aufzustellen unternimmt. Der Grund liegt doch wohl tiefer. Im Interesse der in den letzten Jahren so ernsthaft strebenden Filmindustrie, die jetzt gerade im Begriff ist, die Kinderschuhe gründlich zu vertreten, sei über die wahren Gründe dieser Vernachlässigung geschwiegen. Mit den sich mehrenden Erfolgen der noch jungen Filmkunst wird auch die Presse mehr und mehr aufhorchen, und wird, durch ernsthafte, eingehendere Würdigung, dem Film der Zukunft, seiner Bedeutung entsprechend, helfend und fördernd zur Seite stehen.


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