CinErotikon. Materialien zum 12. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 4. - 7. November 1999.

Erotik im Film

Dr. phil. Hans Walter Schmidt

in: Film-Kurier, Nr. 19 & 20, 21. & 22.1.1925.


Stets muß man sich vergegenwärtigen, daß der Film ein Stück Leben darstellen will. Und so muß man, wenn man den Film verstehen will, das menschliche Leben betrachten. Diejenigen Faktoren, welche im Leben des Menschen eine einschneidende Rolle spielen, werden auch im Film zu einem Machtfaktor geworden sein, dessen Größe der Rolle gleichkommt, welcher dieser Faktor im Menschenleben zu spielen berufen ist. Ein Sprichwort lautet: Geld regiert die Welt! Und dennoch dürfte besonders in der jetzigen Entwicklungsperiode ein anderes Wahrwort wenigstens eben so viele Berechtigung haben. Dieses lautet: Liebe regiert die Welt! Zunächst müssen wir uns darüber klar werden, was hier eigentlich unter dem sehr dehnbaren Begriff Liebe zu verstehen ist. Nächstenliebe ist sicherlich nicht gemeint, denn hier fehlt es leider an allen Ecken und Enden mehr denn je. Diese Liebe deckt sich nur mit dem Begriff »Erotik«. Und Erotik bedeutet nichts anderes als jene große, ja stärkste Macht in der Natur, welche unwiderstehlich die Geschlechter zu einander hinzieht. Diese Liebe ist vom Schöpfer dazu bestimmt, jegliche Art der Lebewesen, also auch das Menschengeschlecht, zu erhalten. Diese Erotik ist, so lange sie in den ihr gezogenen natürlichen Grenzen verweilt, eine segenbringende, eine hehre und hohe Macht, welche mit dem Gefühle heiligster Triebe verwächst. Aber der Umwandlungsprozeß des Naturvolkes in das Kulturvolk hat sich auch der Liebe bemächtigt und diese zivilisiert, aber leider in einem Sinne, welcher wahrer Kulturarbeit Hohn spricht. Geradeso wie die fortschreitende Kultur oder besser gesagt Überkultur der Menschen Sitten und Lebensgewohnheiten verunstaltet, so hat im menschlichen Leben der Wandel der Zeit auch die Liebe besonders diejenige des Mannes zum Weibe korrumpiert. Hierdurch teilt sich der Begriff Liebe in tiefgefühlte, moralisch gute Liebe und in zügelloses, alle Schranken durchbrechendes Verlangen nach dem Liebespartner. Und das der Mann im Punkte der Liebe den aktiven Faktor bedeutet, so zeigt sich bei ihm dieses Verlangen um so ausgeprägter und zeitigt um so schwerer wiegende Folgeerscheinungen, welche das Innenleben und das Wirtschaftsleben der Menschen maßgebend beeinflussen.

Diese Erkenntnis der Mannigfaltigkeit des Gefühles, welches man kurzweg mit Liebe bezeichnet, zeigte dem Film einen Weg, der zum Erfolge zu führen scheint. Der äußerst variable Typ der Liebe wird neben der Charaktergestaltung des Weibes der wirksamste Typ im Film. Und dies erscheint um so begrüßenswerter, als zwischen den beiden extremen Polen der heiligsten moralischen Liebe und der zügellosesten Leidenschaft eine ganze Skala von mächtigen Impulsen im Menschenleben liegt, welche durch feinste Abstufung unendliche Variationen erfährt. Und diese alle sind für den Film brauchbar. Die Filmproduktion wird sich daher über verschiedene Punkte der Erotik im Film klar werden müssen, nämlich über das Vorkommen der Erotik im Film, zweitens über die Darstellung der Erotik im Film und drittens über die Wirkung der Erotik im Film.

Wo darf uns im Film der Ausdruck der Erotik entgegentreten? Diese Frage betrifft vor allen Dingen den Autor des Manuskripts. Sein Genie hat zu bestimmen, wo Liebe und in welcher Form dieselbe im Filmwerk zu erscheinen hat. Dies für den Durchschnittsfilm zu bestimmen, ist keine Kunst, weil der Durchschnittsfilm eben kein Kunstwerk bedeutet. Ebenso wie ein kunstlos ausgearbeiteter Roman meist ein friedliches Liebesproblem behandelt, so wird auch der Unterhaltungsfilm im Durchschnitt ein solches sich zum Vorwurf nehmen. Da aber der Film psychologische Momente sehr oft nur in kurzen Zwischenbildern mit Schrift mangelhaft auszudrücken vermag, so hat er seine Hauptstärke in der dramatischen Handlung, in reichbewegten Szenen zu suchen, durch welche auch die Psychologie, die Charaktere der handelnden Personen ausgearbeitet werden können. Aus diesem Grunde vermag der Film die lyrischen Liebesparteien nicht gut herauszumodellieren, wohl aber desto besser die dramatischen. Er ist nicht im dem Maße, wie das literarischen Werk befähigt, alle feinsten Nuancierungen herauszumeißeln, er ist aber im Punkte der erotischen Darstellung geschickt, jede erotische Regung in dramatisch bildlicher Phase dem Publikum vorzuführen und allen Bildungsstufen in gleichem Maße kenntlich und verständlich zu machen. In ausgedehntestem Maße kann daher der Film das Gebiet der Erotik überall da aufnehmen und bearbeiten, wo es in literaturtechnischer Hinsicht passend ist oder passend gemacht werden kann. Der Spielraum ist deswegen ein weiter und die Ausnützungsmöglichkeit dieser Chancen eine durchaus große.

Die Filmproduktion auf technischem Gebiete erhält das Manuskript zur Verwertung. Ihr ersteht daher auch die Aufgabe, die dort eingeflochtene Erotik zu verwerten; diese muß demnach filmdarstellerisch zum Ausdrucke gebracht werden. Die Gedanken des Autors eines Literaturwerkes sind oft ganz andere, als diejenigen, welche der Leser aus seinen Worten entnehmen zu müssen glaubt. Die Absichten des Schriftstellers sind oft ganz verschieden von denjenigen, die das Publikum aus seinen Worten herausliest. Dies richtet sich nach Verstandeskapazität und nach der moralischen Qualifikation des Lesers. Ebenso variiert auch die Auffassung der Darstellung und die Auffassung des Autors des Filmmanuskriptes, deswegen ist es stets von Vorteil, wenn filmtechnisch geschulte Kräfte das Manuskript selbst zusammenstellen, weil hier wenigstens große Differenzen der Anschauungen vermieden werden. Auf jeden Fall aber wäre es nötig, daß der Filmautor bei der Inszenierung zugegen ist, um mündlich den nötigen Kommentar zu seinem Manuskripte zu geben. Daß dieser Punkt auf dem Gebiete der Erotik besonders ins Gewicht fällt, ist von vornherein klar. Denn erotische Darstellung verlangt von Moral und Verstand eine äußerst difficile Arbeitsleistung, soll sie richtig aufgefaßt und exakt wiedergegeben werden. Hier gilt mehr denn je das Wort: Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt. Im Punkte der Erotik gilt es aber auch nur, einen kleinen Schritt zu tun, und man hat die Grenzen des Moralischen verlassen. Der Darstellung der Erotik im Film muß daher eine richtige Auffassung der Literatur des Manuskriptes zugrundeliegen, sowohl vonseiten des Spielleiters als auch vonseiten des ausführenden Schauspielers. Nur dann können die erotischen Phasen in einer Weise im Bilde festgehalten werden, wie sie der Geist des Autors erdichtet.

Die Wirkung dieser Erotik ist weder ein Werk des Autors, noch ein solches der Filmproduktion, sondern sie hängt innig zusammen mit der Auffassung des Publikums. Und diese Auffassung variiert bekanntlich ungeheuer. Es ist richtig: im Grundprinzip der Liebe handeln alle Menschen der Natur- und Kulturvölker, welches Bildungsniveau sie auch erreicht haben, gleich, weil sie ein gleiches Verständnis diesem wichtigsten Prinzip im Menschenleben entgegenbringen. Anders ist es bei Einzelheiten. Je höher der Bildungsgrad und je besser die Moral in einem Menschen ausgebildet erscheint, desto edler wird sich sein erotisches Empfinden zeigen und diese Aktivität überträgt sich auch, wenn ich mich so ausdrücken darf, in die Passivität, dies produktive Selbsthandeln zeigt sich auch im receptiven Aufnehmen. Mit einem Wort, die Wirkung von Liebesszenen im Film auf einen Menschen wird stets kongruent sein mit dem sittlichen Empfinden und mit der verstandesgemäßen Auffassung der Liebe in dessen Seele und Geist. Es läßt sich hier keine Norm aufstellen und kein Schema. Denn der eine wird sich an einer Liebesszene im Film durchaus ergötzen, die den andern vielleicht anwidert, der eine wird von einer solchen mächtig ergriffen werden, während der andere sich vor ihr gar nicht berührt fühlt. Jede Liebesszenen jedoch wird ihrem Wesen nach auf eine Kategorie von Menschen ihren Eindruck nicht verfehlen.

Aus diesen Darlegungen erkennt man wohl zur Genüge, daß in der Erotik im Film der Menschheit eine Macht in die Hand gegeben ist, welche tiefe Furchen in Seele und Geist des Schauenden zu ziehen imstande ist. Der Mensch muß sich daher auch der Verantwortung klar werden, welche ihm dadurch aufgebürdet wurde. Der Dualismus im Menschen, der Kampf zwischen Gut und Böse zeigt sich je und je und überall im Leben. Und auch die Erotik im Film vermag Gutes, aber auch Böses hervorzubringen - je nach ihrem Charakter. Der Mensch aber ist dazu geschaffen, Gutes zu wirken. Und so soll auch die Erotik im Film nicht dem Verlangen von Volksgeschichten angepaßt werden, wenn sie dadurch ihre Sittlichkeit verleugnen muß, sondern sie soll so ausgestaltet sein, daß der sittlich Hochstehende seine Freude daran hat. Dann wird sie bildend und aus dem Sumpfe des Verwerflichen herausziehend auf die Menschheit einwirken können. Dies zu erreichen, ist allein des Schweißes der Edlen wert. Und solche Darstellung der Erotik wird bei unserem heutigen Sittenverfall eine aufhaltende Kraft darstellen. Sie wird den Aufbaugedanken kräftig unterstützen, indem sie einen tragfesten Grundstein für das Gebäude wahrer Kulturarbeit bilden kann.


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