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Matthias Müller - Regisseur

Biografie

siehe auch: Filmografie

Matthias Müller, geboren am 29. März 1961 in Bielefeld, Sohn des Pfarrers Hans Müller und seiner Ehefrau, der Lehrerin Elisabeth Müller, geb. Köller. Besuch des Gymnasiums Lage in Lage/Werre bei Bielefeld. In der Abiturklasse entsteht als Gemeinschaftsarbeit der halbstündige Super8-Film DAS VERMÄCHTNIS, eine heftige Attacke gegen die Schule. 1981-87 Studium der Germanistik und Kunst (bei Jürgen Heckmanns) an der Universität Bielefeld. 
Unter dem Produktionsnamen "Anstrengend aber schön" dreht und produziert er gemeinsam mit Christiane Heuwinkel (geb. 4.6.1961, Detmold) eine Reihe von Kurzfilmen. 1985 Gründung der Super8-Film-Coop "Alte Kinder", einer Gruppe von acht Filmern, die "ihre Sozialwohnungen zu Filmstudios erklären", ihre Werke selbst verleihen, Vorführungen persönlich begleiten und so Live-Ereignisse schaffen. Für einige Jahre machen sie aus Bielefeld "eine der lebendigsten Amateurfilmszenen des Landes" (taz). Mit ihren Programmen touren sie durchs In- und Ausland und erhalten zahlreiche Preise und Auszeichnungen.
1984 Beginn der Zusammenarbeit mit Dirk Schaefer, der als Musiker und Komponist an fast allen Filmen Müllers und deren Projektentwicklung beteiligt ist. In CONTINENTAL BREAKFAST (1984/85), einer Beziehungsgeschichte um ein frühstückendes Paar, bricht Müller die Kontinuität der Erzählung, indem er einerseits Phasenfotografien einsetzt oder mit Video Stills arbeitet, die von Textfolien vielfach überlagert werden und indem er anderseits "zitiert": TV-Nachrichtenbilder werden als vorgefundenes, fremdes Material (Found Footage) benutzt und mit eigenem vermischt. Nach dem Staatsexamen 1987-91 Studium der Freien Kunst an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Besuch der Filmklasse von Birgit Hein und Gerhard Büttenbender, die Müller 1991 als Meisterschüler abschließt. 1989 Organisation der "Avantgarde-Filmtage" in Bielefeld.
Die 28minütige autobiografische 16mm-Produktion AUS DER FERNE - THE MEMO BOOK (1988/89) behandelt den Verlust eines geliebten Freundes, der an AIDS gestorben ist. Die Arbeit hat für ihn eine fast therapeutische Funktion: "Die Unmenge an Material, die ich angehäuft hatte, mußte erst eine Weile lagern, um überhaupt von mir bearbeitet werden zu können. (...) Beim Filmen lasse ich gewöhnlich viel Raum für Zufälle, Nebenlinien und Variationen meiner ursprünglichen Idee. Der Schnitt ist für mich eine kontrolliertere, analytischere Stufe, und um mein Material überhaupt in seinen Bedeutungen und Möglichkeiten verstehen zu können, brauche ich Abstand dazu." (Müller zu Post, 1997).
In dem 6minütigen Kurzfilm HOME STORIES (1990) verwendet Müller ausschließlich (Video-)Ausschnitte aus farbigen US-Melodramen und Kriminalfilmen der 50er und 60er Jahre. Angeregt durch seinen Lieblingsfilm, Douglas Sirks IMITATION OF LIFE (1958), wählt er Bilder von Lana Turner, Kim Nowak, Tippi Hedren, Lauren Bacall, Jane Wyman und Audrey Hepburn in verschiedenen Situationen: auf dem Bett liegend, telefonierend, Lampen an- und ausknipsend, sehnsüchtig aus dem Fenster sehend … "Durch geschickte Auswahl der Montage gleichartiger oder verwandter Situationen destilliert Müller eine kontinuierliche homogene Erzählung, filtert eine Art Übermelodram aus den Originalen heraus, was durch die an Bernard Herrmann gemahnende Musik noch unterstrichen wird. Daß HOME MOVIES natürlich auch ein hoch ironisches Unternehmen ist, tut dem keinen Abbruch, sondern erhöht im Gegenteil den Reiz." (W. Günther, 1996).
Angeregt durch Sea Novels, vor allem von Joseph Conrad und Herman Melville, entsteht 1993 SLEEPY HAVEN, ein Tagtraum um Sehnsucht, Verlangen, Begierde und Körperlichkeit in der ikonografischen Tradition von Kenneth Anger, Jean Genet oder Jean Cocteau. "Es ist wieder abgefilmt, handentwickelt und zum Teil solarisiert worden - und das schafft eine durchgängige Ästhetik, die das Material zusammenzieht." (Müller zu Post, 1997). ALPSEE (1994), ein in 16mm gedrehter, sorgsam ausgestatteter und inszenierter Film zeigt in grellen, leuchtenden Farben Szenen einer Kindheit in den 60er Jahren. Eine Mutter-Sohn-Beziehung. Der Sohn, allein im Haus, beobachtet den Alltag seiner Mutter bei der Verrichtung von Haushaltstätigkeiten und verliert sich in Träumen, in denen Einzelheiten seiner Wirklichkeit surreal verwandelt werden. 
In PENSÃO GLOBE (1997) geht Müller der Frage nach, was die Erfahrung des Sterbens sei, und konstruiert eine fiktive Situation: Ein aidskranker Mann bereitet sich auf den Tod vor und erfüllt sich einen letzten Traum mit einer Reise nach Lissabon. Dort mietet er sich ein Zimmer in der Pension "Globo" und unternimmt ziellose Stadtausflüge. Von einer anstrengenden Besichtigung kehrt er erschöpft zurück, bricht zusammen und rekapituliert das Erlebte, besonders seine unzähligen Untersuchungen. "Zwei nacheinander gefilmte, gleiche Einstellungen werden später simultan, aber räumlich wie zeitlich leicht ver-rückt projiziert und nochmals gefilmt. So erscheint die Doppelperspektive als ein verzerrtes, brüchiges und geheimnisvolles Echo aus einer anderen Welt - eine eindrucksvolle Metapher für die Entgrenzung des Körpers, das Neben-sich-Stehen in einer existentiell bedrohten Situation". (A. Groenewold, Neue Westfälische, 6.10.97).
In dem Artikel "Thieves like me" berichtet Müller, wie er 1998 im Filmmuseum São Paulo bei der Recherche zu VACANCY zufällig auf halb verrottete Aufnahmen einer Filmamateurin aus den 60er Jahren stößt, die Ausgangsmaterial für sein eigenes Projekt über den Bau von Brasilia werden. Der 14minütige Film, der 1999 in Oberhausen einen Hauptpreis erhält, zeigt überwiegend Archiv- und Amateurfilmaufnahmen der neuen Modellstadt, die Einweihungsfeier, ihre offenen Plätze, Bauten, Straßen und ihre Menschen, die inmitten der überdimensionierten Architektur verloren wirken. Dazu lässt Müller in verschiedenen Sprachen Texte von Italo Calvino, Samuel Beckett und David Wojnarowicz sprechen, die das Verhältnis von Mensch und moderner Stadt sowie deren Anonymität thematisieren.
1999 stellt Müller mit dem hannoveraner Künstler Christoph Girardet im Auftrag des Museum of Modern Art Oxford für dessen Ausstellung "Notorious - Alfred Hitchcock and Contemporary Art" PHOENIX TAPES zusammen, einen 45minütigen Zyklus von sechs kurzen Videobändern, eine Hommage an Hitchcock anlässlich dessen 100. Geburtstags. Die Found-Footage-Kompilation aus 40 Hitchcock-Filmen läuft im Herbst 1999 auf der Mostra in Venedig und wird beim European Media Art Festival 2000 in Osnabrück mit dem Preis der deutschen Filmkritik ausgezeichnet. "Alte Motive aus Filmen Hitchcocks werden gebündelt und unkommentiert hintereinander geschnitten: die Schauplätze, die Tatwaffen, die Türen, die Züge, die Mütter, die Söhne, die Frauen. Man hat wirklich den Eindruck, dass das Werk auf einem Seziertisch gelandet ist. Das letzte Bild zeigt eine Träne auf dem Gesicht einer Hitchcock-Heldin in Superzeitlupe. Die Augen schließen sich, sie gehen wieder auf. Die Liebe, der Tod, ein Ende, ein Anfang? Man weiß es nicht - es spielt auch keine Rolle mehr. Das Kino ist tot - es leben die Pathologen". (M. Althen, Süddeutsche Zeitung, 13.9.1999). 
Müller ist 1996 und 1999 Initiator und Kurator des deutschen "Found Footage Film Festivals", 1996 im Lichtwerk-Kino im Filmhaus in Bielefeld. Er ist Gastkurator für Sonderprogramme bei Festivals in Montréal, Budapest und Kassel. 1997 konzipiert und organisiert er mit Christiane Heuwinkel Ausstellung und Filmpräsentation von "Ich etc. - Tagebuch Filme / Film Tagebücher" in der Kunsthalle Bielefeld. Seit 1994 Lehraufträge am Institut für Filmwissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main und an der Fachhochschule Dortmund. 
Matthias Müller lebt in Bielefeld.

Auszeichnung

  • 1986 Ann Arbor 8mm-Film Festival: 2. Preis für WANDERER IM NEBELMEER.
  • 1986 Festival international du film super 8, Montréal: 2. Preis für CONTINENTAL BREAKFAST.
  • 1987 Ann Arbor 8mm-Film Festival: 2. Preis für CONTINENTAL BREAKFAST.
  • 1987 No Budget Film Festival, Hamburg: 1. Preis für EPILOG.
  • 1987 Festival international du film super 8 et vidéo, Montréal: Prix Spécial für FINAL CUT.
  • 1988 Ann Arbor 8mm-Film Festival: American Federation of Arts Experimental Film Award für EPILOG.
  • 1989 Experi Bonn: Publikumspreis für AUS DER FERNE - THE MEMO BOOK.
  • 1990 IFF Oberhausen: Experimentalfilmpreis (ex aequo) für AUS DER FERNE - THE MEMO BOOK.
  • 1991 IFF San Francisco: Special Jury Award für AUS DER FERNE - THE MEMO BOOK.
  • 1991 Preis der Deutschen Filmkritik für HOME STORIES.
  • 1991 ave Arnheim: Audience Award für HOME STORIES. 
  • 1992 Festival du Court Métrage Clermont-Ferrand: Prix de la Récherche für HOME STORIES.
  • 1993 Stuttgarter Filmwinter: Erster Preis für SLEEPY HAVEN.
  • 1994 Filmfest Dresden: Erster Preis (ex aequo) für SLEEPY HAVEN.
  • 1994 Filmzwerge Münster: Erster Preis (ex aequo) für SLEEPY HAVEN.
  • 1995 Deutscher Kurzfilmpreis (Nominierung) für ALPSEE.
  • 1995 IFF Oberhausen: Hauptpreis für ALPSEE.
  • 1995 Internationales Kurzfilmfestival Vila do Conde: Großer Preis der Stadt Vila do Conde für ALPSEE.
  • 1995 IFF San Francisco: Golden Gate Award (New Visions) für ALPSEE.
  • 1997 Preis der Deutschen Filmkritik für PENSÃO GLOBO.
  • 1997 Internationale Kurzfilmtage Oberhausen: Preis der Interfilm-Jury (ex aequo) für PENSÃO GLOBO.
  • 1997 Festival du Court Métrage de Clermont-Ferrand: Prix de la Presse für PENSÃO GLOBO.
  • 1997 IFF San Francisco: Certificate of Merit (Golden Gate Award) für PENSÃO GLOBO.
  • 1998 Semana de cine experimental, Madrid: 1. Preis für PENSÃO GLOBO.
  • 1998 The Images Festival of Independent Film and Video, Toronto: Best of The New Screen International Award für PENSÃO GLOBO.
  • 1999 IFF Oberhausen: Hauptpreis der Internationalen Jury für VACANCY.
  • 1999 Internationales Hamburger Kurzfilmfestival: Dritter Preis für VACANCY.
  • 1999 Côte court, Paris: Prix Spécial für VACANCY.
  • 1999 Viper - International Festival for Film, Video and New Media, Luzern: Viper International Award für VACANCY.
  • 1999 Europäischer Filmpreis : Nominierung (Sparte Kurzfilm) für VACANCY.
  • 1999 European Media Art Festival, Osnabrück: Preis der Deutschen Filmkritik für PHOENIX TAPES.
  • 2000 Kritikerpreis des Verbandes der Deutschen Kritiker e.V. in der Sparte "Film"

Literatur

Von Matthias Müller
- Exoten-Tableau aus dem Super-8-Dschungel. In: Bielefelder Stadtblatt, 31.1.1985.
- Experimentalfilmen mit Gefühl und Wellenschlag. In: Neue Westfälische, Bielefeld, 24.2. 1988. (Über die Film-Gruppe "Schmelzdahin").
- Tugend, Affront - oder doch nur Fingerübungen? In: Hamburger Rundschau, 25.5.1989.
- Films by Matthias Müller. Bielefeld: Eigenverlag 1995, 34 S. (Katalog). 
- Das Kino der Differenz. Zur Situation des experimentellen Kurzfilms. In: epd Film, Nr. 9, September 1996, S. 10-12.
- The Cinema of Difference. In: Millennium Film Journal, New York, Nr. 30/31, 1997.
- Y a-t-il une avant-garde dans la salle? In: Repérages, Paris, Nr. 9, Dezember 1999.
- Thieves like me. Bemerkungen zu einem diebischen Vergnügen. In: Schnitt, Bochum, Nr. 18, April 2000, S. 24-26.

- Torsten Alisch: Vom Sinn des Filmens. In: Tageszeitung, Berlin, 23.9.1987.
- Barbara Scharres: Old Kids. Contemporary German Super-8. In: The Film Center Gazette, Chicago, Nr. 3, 1988.
- Mike Hoolboom: Old Children and AIDS. In: Independent Eye, Toronto, Nr. 2/3, Frühjahr 1990, S. 89-98. (Interview).
- Tanja Veenstra: Uitdaging aan de vergankelijkheid. In: Skrien, Amsterdam, Nr. 12, Dezember 1992, S. 68-70.
- Yann Beauvais: Un cinéma mineur, de moeurs, d'humeur - Un second siècle pour le cinéma. In: Art Press, Paris, 1993, hors série no. 14, S. 148-152.
- Thomas Wolf: Schnitte ins Fleisch. In: Frankfurter Rundschau, 22.9.1993.
- Siegfried Kaltenecker: Im Schatten der Objekte. Über die Reflexionen eines anderen Selbst in Matthias Müllers THE MEMO BOOK. In: Film und Kritik, Heft 2, 1994, S. 71-84.
- Alexandra Jacobsen: Matthias Müller, der Maximalist. In: Bell/Jacobsen/Schumacher/ Patalas: Pioniere, Tüftler, Illusionen. Kino in Bielefeld. Bielefeld: Westfalen-Verlag 1995, S. 37-48. (Interview).
- Jacques Kermabon: Le cinéma dans les plis. In: Bref, Paris, Nr. 26, August 1995, S. 8-13.
- Carl Andersen: Gesammelte Blicke. Das geborgte Kino von Matthias Müller. In: Neues Deutschland, 1.2.1996.
- Winfried Günther: Überall ist Schönheit. Zu den Filmen von Matthias Müller. In: epd Film, Nr. 12, Dezember 1996, S. 18-21.
- Jacques Kermabon: Matthias Müller - les résonnances de l'intime. In: Côte court, Paris, Juni 1997, S. 24.
- Johannes C. Trischler: Bilder, Töne, Materialien. In: Leeson, Konstanz, Nr. 6, Juli 1997, S. 17-19.
- Gérard Lefort: Matthias Müller - épris de court. In: Liberation, Paris, 18.6.1997.
- Mike Hoolboom: Scattering Stars. The Films of Matthias Müller. In. Millennium Film Journal, New York, Nr. 30/31, Herbst 1997, S. 80-88.
- Michael Girke: Ein Filmemacher gibt Auskunft. In: StadtBlatt, Bielefeld, 30.10.1997. (Interview).
- Gerhard Koll: Matthias Müller in porträtierender Annäherung - Die Pupille als Schlupfloch. In: Blimp, Graz, Nr. 38, März 1998, S. 23-32.
- Sophia El Mazougui: Matthias Müller - L'arbre de vie. In: Exploding, Paris, Nr. 1, Oktober 1998, S. 58-61.
- Dietmar Post: Mes films s'écartent de cette vision des choses. In: Scratch Book, Paris, Les éditions du seuil 1999, S. 302-308 (Interview; New York 1997)
- Florent Guezengar: La peau par les rumeurs. In: Exploding, Paris, Nr. 2, 1999, S. 113-116.
- Sophia El Mazougui, Florent Guezengar: Comme une image intérieure. In: Exploding, Paris, Nr. 2, 1999, S. 117-129. (Interview).
- Tom Lubbock: Through the rear window. In: The Independent, London, 13.7.1999.
- Anthony Lane: In Love with Fear. IN: The New orker, 16.8.1999, S. 80-86
- Richard Dorment: Homages to the Master. In: The Daily Telegraph, London, 21.7.1999.
- Stefan Grissemann: Schwitzkasten der Weltgeschichte. In: Presse, Wien, 8.9.1999.
- Michael Althen: Lob der Lücke. In: Süddeutsche Zeitung, 13.9.1999.
- Stefanie Braun: Talepiece. In: Creative Camera, London, Nr. 359, August/September 1999, S. 50 (Interview).
- Scott McLeod: The Shape of a Particular Death: Matthias Müller's VACANCY. In: Pleasure Dome, Toronto, Frühjahr 2000.
- Scott McLeod: The Shape of a Particular Death: Matthias Müller's VACANCY. In: Pleasure Dome, Toronto, Frühjahr 2000.
- Ted Shen: Memory Works - Film and Video by Matthias Müller. In: Chicago Reader, 24.3.2000
- Peter Tscherkassy: A Poet of Images - The Work of Matthias Müller. In: Mostra Internationale del nuovo cinema, Pesaro, Juni 2000, S.167-186.
- Murray Whyte: Spellbound by Hitch. In: National Post, Totonto, Juli 2000.
- Anselm Wagner: Manifesta 3. In: Frame, Nr.4, Wien, September/Oktober.

Filmografie