Reihe CineGraph Buch
Erika Wottrich(Red.)
M wie Nebenzahl.Nero - Filmproduktion zwischen
Europa und Hollywood.
Harold Nebenzahl
Film, Geschichte, Nebenzahl
Harold Nebenzahl
FILM, GESCHICHTE, NEBENZAHL
"Merriam Websters Collegiate Dictionary", 10. Auflage, definiert "Film" so:
"Von mittelenglisch >filme<, altenglisch >filmen<, verwandt mit dem griechischen
>pelma<, die Fußsohle (...) eine dünne Haut oder durchsichtige Fläche
(...) eine äußerst feine Schicht (...) ein Stück Zellulose-Azetat mit einer lichtempfindlichen
Beschichtung (...) Lamina (...) " Das ist natürlich alles Unsinn.
Wir wissen, was Film ist. Und da gibt es nichts Dünnes, Durchsichtiges, Feines.
Es ist etwas, das länger ist als die Transatlantik-Kabel, stärker als eine Ankerkette
und nährender als eine Nabelschnur.
Ausgehend von der Edisonschen Erfindung des Kinetoscopes im Jahre 1891
hat sich Film zu einer Tafel entwickelt, auf der sich alles Wissen, mag es heilig
sein oder profan, vermutlich überwiegend Letzteres, eingeschrieben hat. Aufgrund
der visuellen Eigenschaften des Films, anders als beim Druck, sind
Sitten, Verhalten, Humor, Technologie undModender letzten 100 Jahre für die
Nachwelt festgehalten. Darüber hinaus sind die Filmmacher bei der Darstellung
der Vergangenheit weit in die Geschichte zurückgegangen. So können wir
beobachten, wie struppige Höhlenmenschen Jagd auf Auerochsen und Frauen
machen, wir sehen Pharaonen in ihren Wohnschiffen auf dem Nil, römische
Legionen auf dem Marsch, Jesus am Kreuz, die Kreuzritter vor Jerusalem und
Napoleon bei Waterloo. Als reiche es ihnen nicht, die Vergangenheit in lebende
Bilder zu verwandeln, haben Filmmacher eine Zukunft erfunden, die entweder
von liebenswerten Außerirdischen bevölkert ist oder von schwarzgekleideten
Barbaren, die sich in einer kalten, herzlosen und unwirtlichen Umgebung
gegenseitig umbringen.
In Hunderten von Jahren werden durch eine heute noch unbekannten Technologie
unsere Filme - vielleicht auf direktem Wege - dem Gehirn zukünftiger
Wesen zugeführt. Man kann sicher voraussagen, dass jene kommenden Generationen
noch weniger literarisch gebildet sein werden als wir, unfähig einen
Stift zu benutzen oder einen Satz zu analysieren. Zweifellos werden sie glauben,
dass unser Höhlenmensch, der die prachtvolle Blondine in seine Höhle
trägt, oder jener Held, der im Weltraum für Gerechtigkeit sorgt, in Realität von
Zeit und Raumgefilmt worden sind. Das ist auch egal. Die Filmleute - was auch
immer ihr Antrieb gewesen sein mag: die Kunst, das Kreative oder der Profit -
haben zumindest unsere Zeit akkurat abgebildet, und ein ebenso interessantes,
wenn auch fantasievolles Abbild der Vergangenheit, so wie wir sie uns vorgestellt haben, und der Zukunft, so wie wir sie erträumt haben.
Das ist eine unglaubliche Leistung, die das Leben zukünftiger Generationen bereichern wird.
Sie werden uns dankbar sein für dieses kulturelle Erbe, für den Schatz der Filme
- bedeutende, mittelmäßige und ganz schlechte, Spielfilme, Dokumentationen,
Lehrfilme, Kurzfilme, Wochenschauen, Trickfilme, Homemovies, Pornofilme
und selbst für das Fernsehen; kurz gesagt, die Aufzeichnung dessen, was
wir waren, wie wir dachten, wie wir die Welt gesehen haben.
Wer waren also diese Leute, die all diesen Zauber schufen, den wir als Film kennen?
Wir lassen jene Einfallsreichen beiseite, die Erfinder, Wissenschaftler,
Techniker, Tüftler und Genies, die das Ganze durch ihre Forschungen und
Technologien ermöglicht haben. Das ist eine andere Geschichte.
Nachdem die Technik existierte, stellte sich die Frage: "Wie verdienen wir
einen Dollar, eine Mark, einen Pengö, einen Franc damit?" "Damit" galt seriösen Menschen als etwas, das in düsteren Sälen vorgeführt wurde, etwa in der Art eines Wanderzirkus; Unterhaltung auf einem Niveau mit dem "Baby mit zwei Köpfen", dem "Affenmenschen", der "bärtigen Dame" und "Hootchie-Kootch Dancers".
Film, Lebende Bilder, Kintopp war nichts für gebildete und angesehene Menschen, für die Einflussreichen und Begüterten. Es waren nicht die Landbesitzer, die Banker, die Industrie-Kapitäne, die die Chancen dieses neuen Mediums erkannten; es waren zumeist Einwanderer, wie mein Großvater, oft aus Ost-Europa stammend. Das waren vielfach Leute, die von den
Machthabern an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden waren. Handschuhmacher,
Knopflochnäher, Altkleider-, Schrott- und Abfallhändler, Hosen- und Mantel-Fabrikanten - oder aus dem Butter- und Eierhandel wie in meiner eigenen Familie.
Ein großer Anteil dieser Leute waren Juden - ein Volk, das immer danach strebte,
die Lage seiner Familien zu verbessern, das sich von fremden Sprachen nicht
einschüchtern, von engen Konventionen nicht einschränken ließ. Viele hatten
unter der Verfolgung in der Zarenzeit gelitten, den Nordatlantik in überfüllten
Schiffen überwunden. Sie suchten ihre Chance und ergiffen sie.
Sie befassten sich mit dem, was andere als "Peep-Show" abtaten, und innerhalb
von zwei Jahrzehnten hatten sie ihre "Lebenden Fotografien" in Scheunen, Lä-
den und schließlich in Theatern in allen Ländern der Erde gebracht.
Der Bau von Studios, die Gründung von Verleihfirmen und Künstleragenturen, das
Konzept des Starsystems, das Engagement von Autoren, Szenenbildnern und
Technikern folgten in atemberaubendem Tempo. In den 30er Jahren war alles
wohlgeordnet.
Die Nebenzahls spielten eine Rolle in diesem weltweiten Gewerbe. Und nun
bietet sich mir endlich die Möglichkeit zu sagen, wie stolz ich auf meinen Groß-
vater und Vater bin, und wie dankbar CineGraph und Hamburg, dass sie die
Erinnerung an sie in Ehren halten.
Harold Nebenzahl 2002
Materialien zum gleichnamigen filmhistorischen Kongreß (2001)
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