Reihe CineGraph Buch
Francesco Bono, Johannes Roschlau
(Red.)
Tenöre, Touristen, Gastarbeiter
Deutsch-Italienische FilmbeziehungenFrancesco Bono, Johannes Roschlau:
Wege über die Alpen
Italienreise - Liebe inbegriffen
(D 1957, Wolfgang Becker)
Quelle: BArch, FilmSg. 1-8093
Wege über die Alpen
Touristen, Gastarbeiter und Tenöre haben eines gemeinsam: Sie stehen exemplarisch für transalpine Grenzüberschreitungen Erstere als Teilnehmer der wohl bedeutendsten deutsch-italienischen Wanderungsbewegungen des 20. Jahrhunderts, Letztere als erfolgreiche italienische »Exportartikel«. Filme wie das Beniamino Gigli-Melodram Mutter / Solo per te (1938, Carmine Gallone), das Urlaubs-Lustspiel Italienreise Liebe inbegriffen (1957, Wolfgang Becker) oder der Migranten-Krimi I magliari (1959, Francesco Rosi) reflektieren diese historischen Phänomene. Als Bilder des »Fremden« auf der anderen Seite der Alpen gehören sie zur schillernden Oberfläche der deutsch-italienischen Filmbeziehungen, unter der sich ein facettenreiches Netzwerk biografischer, künstlerischer, politischer und ökonomischer Zusammenhänge entdecken lässt.
Der vorliegende Band – selbst eine deutsch-italienische Gemeinschaftsarbeit – unternimmt einen ersten Versuch, einige Stränge dieses Geflechts freizulegen und die wichtigsten Verbindungen zwischen dem italienischen und dem deutschen Kino zu erfassen. Damit setzt er eine langjährige CineGraph-Tradition fort, noch unerschlossene Gebiete des Kontinents »Film-Europa« zu erforschen. Diverse »Expeditionen« nach Frankreich, England, Dänemark und in die Tschechoslowakei bestätigten immer wieder die Erkenntnis, die diese Bemühung motiviert: Die Vorstellung einer streng abgrenzbaren deutschen Kinematografie ist ebenso verfehlt wie das Konzept einer rein national ausgerichteten Filmhistoriografie. Eine echte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Films in Deutschland muss seine Einbettung in europäische Zusammenhänge berücksichtigen und ihn auch als Produkt einer veränderlichen Gemengelage transnationaler Regeln und Beziehungen begreifen.
Da die Produktion von Filmen an der Schnittstelle von Kunst, Technik, Ökonomie und Politik stattfindet, spiegeln sich in ihr die zentralen Ereignisse und Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in besonderem Maße: der Kampf der großen Ideologien, die Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen, die Umbrüche durch zwei verheerende Weltkriege, aber auch technische und ästhetische Innovationen sowie künstlerische Trends und wissenschaftliche Entdeckungen. Wie wirkte sich deren Zusammenspiel auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Italien aus? Welche Faktoren prägten die »Beziehungskurve« zwischen den beiden Kinematografien? Die Beiträge dieses Bandes geben erste Antworten und entfalten dabei ein vielfältiges Panorama von Kooperation und Konkurrenz, Beeinflussung und Resistenz, Austausch und Ausgrenzung.
Ein erster thematischer Schwerpunkt betrifft die Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Beginn der 1940er Jahre und ist vor allem der Tätigkeit deutschsprachiger und italienischer Filmschaffender zwischen Berlin und Rom, deutsch-italienischen Co-Produktionen und der kulturpolitischen Zusammenarbeit zwischen NS-Regime und faschistischem Italien gewidmet. Ein von der deutschen wie italienischen Filmgeschichtsschreibung bisher weitgehend vernachlässigtes Kapitel des deutschen Stummfilms, mit dem sich gleich drei Texte beschäftigen, ist die umfangreiche Tätigkeit italienischer Filmschaffender im Weimarer Kino. Diese waren ab Anfang der 1920er Jahre zunehmend in Berlin aktiv, als eine tiefgreifende Krise die italienische Filmproduktion lahmlegte und die Arbeitsmöglichkeiten einschränkte. Die Diven Marcella Albani, Maria Jacobini und Carmen Boni reüssierten als südländische Schönheiten in Melodramen und Komödien. Die Muskelmänner Luciano Albertini und Carlo Aldini traten in teils durch eigene Firmen produzierten Sensationsfilmen als Actionhelden in Konkurrenz zu Harry Piel. Regisseure wie Guido Brignone, Augusto Genina, Nunzio Malasomma, Mario Bonnard und Carmine Gallone drehten spektakuläre Großfilme und leidenschaftliche Melodramen, aber auch Komödien und einige Bergfilme. Insbesondere Gennaro Righelli, der in Berlin über ein Dutzend Filme inszenierte, bewährte sich in unterschiedlichen Genres als einfallsreicher Regisseur mit europäischem Niveau.
Die Einführung des Tonfilms Ende der 1920er Jahre wirkte in mehrfacher Hinsicht als Zäsur. Für einen Großteil der italienischen Darsteller war die Karriere im deutschen Film abrupt beendet. Die meisten der Regisseure kehrten nach Italien zurück und trugen durch den Transfer des im Ausland erworbenen Know-hows zum allmählichen Wiederaufbau des italienischen Kinos bei. Als Alternative zu Synchronisierung und Untertitelung entstand mit der Herstellung von Filmen in Mehrsprachenversionen zudem eine tonfilm-spezifische Produktionsform, die bis Anfang der 1940er Jahre für regelmäßige deutsch-italienische Kooperationen sorgte.
Mit der Annäherung der ideologisch verwandten Regime in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre begann eine besonders intensive Phase der Zusammenarbeit, deren widersprüchliche Entwicklung in zwei Beiträgen analysiert wird. Die »Kulturachse« zwischen Berlin und Rom führte zwar zu einer Reihe programmatischer Erklärungen, zahlreichen Co-Produktionen und einem erhöhten Filmaustausch. Gleichzeitig wurden gemeinsame Pläne einer Neuordnung »Film-Europas« unter deutsch-italienischem Primat durch den Konkurrenzkampf beider Filmindustrien beeinträchtigt. Die Ambivalenz der deutsch-italienischen Beziehung zeigte sich besonders bei der gemeinsamen Produktion von Filmen, die Geschichte politisch instrumentalisierten. Wo es um die historische Legitimierung ging, traten oft ideologische Differenzen und nationale Rivalitäten zutage.
Trotz der zunehmenden Annäherung zwischen Berlin und Rom und der ab 1938 auch in Italien gesetzlich geregelten Diskriminierung der Juden konnten manche deutschsprachige Filmschaffende, die vom NS-Regime aus politischen oder »rassischen« Gründen verfolgt wurden, ihre Tätigkeit vorübergehend in Italien weiterführen. Für die italienische Filmwirtschaft war das Engagement ausländischer Kräfte eine willkommene Unterstützung beim Versuch, wieder internationales Niveau zu erlangen. Exemplarisch ist der Fall Max Neufelds, der seiner jüdischen Abstammung wegen nach dem »Anschluss« Österreichs nach Rom ging und Entscheidendes zur Entwicklung der italienischen Filmkomödie beitrug. Während im Rahmen der offiziellen Zusammenarbeit deutsche Filmstars und Regisseure intensiv in Cinecittà drehten, konnte auch eine eher randständige Figur wie Carl Koch 1940 beim Opernfilm Tosca die Regie von Jean Renoir übernehmen und den Film fertigstellen.
Ein zweiter thematischer Schwerpunkt untersucht die Bilder des jeweils anderen Landes, seiner Geschichte und Bewohner in italienischen und deutschen Filmen und verfolgt dabei die Entstehung und Veränderung von Stereotypen, Klischees und Leitmotiven vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart. Die Beziehungen der beiden Völker zueinander, die laut Meyers Lexikon von 1846 »in ihren Charakteren so sehr divergieren, daß sie für die beiden Pole des westlichen Europas stehen«, scheint seit jeher unter ambivalenten Zeichen zwischen Anziehung und Ablehnung, Respekt und Misstrauen zu stehen. Ein Trauma im deutsch-italienischen Verhältnis stellt der Zweite Weltkrieg dar, eine dramatische Zuspitzung, die das Bild der Deutschen im italienischen Film lange geprägt hat. Der Waffenstillstand im September 1943 zwischen Italien und den Alliierten führte zur deutschen Besetzung eines Teils von Italien, wo jeder Widerstand gegen das faschistische Regime brutal unterdrückt wurde. Zahlreiche italienische Filmschaffende haben sich bis heute mit der filmkünstlerischen Aufarbeitung der Okkupationszeit befasst. Wie kein anderer hat sich Roberto Rossellini von Roma città aperta (1945) bis zu Anno Uno (1974) immer wieder mit dem Krieg und den nachfolgenden politischen und moralischen Zerrüttungen auseinandergesetzt, wobei sich der Blick auf die Deutschen im Lauf der Zeit zunehmend differenzierte. 1962 prangerte Vittorio De Sica in seiner Sartre-Adaptation I sequestrati di Altona NS-Kontinuitäten im Wirtschaftswunder-Deutschland an und löste damit einen deutsch-italienischen »Filmkrieg« aus, der bis in höchste Regierungskreise reichte, während später Luchino Visconti und Liliana Cavani in ihren »deutschen Trilogien« sowie Pier Paolo Pasolini die Ursachen und Wirkungsmechanismen des Nationalsozialismus und des Faschismus durch psychosexuelle Erklärungsmodelle zu entschlüsseln versuchten.
Gänzlich andere Bilder zeichneten deutsche Filme ab Anfang der 1950er Jahre von Italien, indem sie den alten Topos des romantischen Sehnsuchtsortes reaktivierten und das Land als Projektionsfläche für bildungsbürgerlichen Wissensdrang, touristischen Erlebnishunger und erotische Fantasien nutzten. Der zunehmende Massentourismus in den sonnigen Süden wurde begleitet von einer Welle von Filmen, in denen Italien und Italiener jedoch nur Staffage waren. Im Gefolge der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik tauchte ab Anfang der 1960er Jahre die Figur des »Gastarbeiters« im deutschen Film auf, die bis in die Gegenwart diverse Wandlungen durchlief. Aus dem Emigranten, der die dörfliche Lebenswelt des Mezzogiorno verlässt und an der emotionalen und sozialen Kälte des deutschen Industriekapitalismus leidet, wurde ab den 1990ern der sozial integrierte Gastronomie-Dienstleister, der südländische Sinnlichkeit und Lebensart repräsentiert. In der DDR produzierte Filme zeigen den synthetischen »DEFA-Italiener« dagegen als unbedarftes Objekt klassenkämpferischer Indoktrination, Schlagersänger-Karikatur oder »fremdrassigen« Zirkusdirektor, der Nazi-Spießer verstört.
Ein weiterer Essay beschäftigt sich anhand von Mario Bavas beispielhaftem Giallo Sei donne per l’assassino / Blutige Seide mit den Hintergründen und Strukturen deutsch-italienischer Co-Produktionen der 1960er Jahre und wirft damit ein Schlaglicht auf ein weiteres von vielen Themenfeldern, die in diesem Band nicht berücksichtigt werden konnten. Diese erste Tour d’Horizon durch ein turbulentes deutsch-italienisches Film-Jahrhundert eröffnet ein weites Feld für intensive und vertiefende Forschungen.
Francesco Bono, Johannes Roschlau
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