Artikel aus CINEPUR Nr. 96 (November/Dezember 2014)
zum Schwerpunkt »Aktueller Deutscher Film«
Thomas Brandlmeier
Halt auf freier Strecke.
Das deutsche Kino der Gegenwart
Wann beginnt die Gegenwart? Hier beginnt sie im Jahr 2000. Das macht insofern Sinn, weil dieses Symboldatum auch für politische, mediale und kulturelle Umbrüche steht wie asymmetrische Kriege, Digitalisierung oder Globalisierung. Und weil Filme darauf reagieren. Aber es gibt keine Gegenwart ohne Vorgeschichte und die beginnt hier in der Jugendrebellion der 1960er Jahren. In Deutschland gab es in dieser Periode eine Aufbruchsgeneration von Filmschaffenden, die inzwischen selbst in die Jahre gekommen, aber vielfach noch aktiv sind. Diese Generation, die sich an neuen Bewegungen in Frankreich (Nouvelle Vague), aber auch in England, der CSSR und anderen Ländern orientierte und mit dem alten deutschen Film vollständig gebrochen hat, ist bis heute für jüngere Filmschaffende ein Vorbild. Dazu gehören z.B. Werner Herzog, Edgar Reitz, Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta und Wim Wenders.
Ihre Filme sind in vieler Hinsicht sehr deutsch. So arbeitet sich Edgar Reitz seit Jahrzehnten an dem Begriff »Heimat« ab. Im Jahr 2000 endet seine Abhandlung zur Wiedervereinigung (HEIMAT 3 – CHRONIK EINER ZEITENWENDE) und 2012 bringt er DIE ANDERE HEIMAT heraus, die nicht vom Weggehen, sondern vom Dableiben handelt, auch wenn die Träume ganz woanders sind. Ereignisse aus der Nazizeit sind das große Trauma und Thema dieser Generation, die unter dem Schock stand, wie ein Großteil der Elterngeneration sich in solche Schuld verstricken konnte. Volker Schöndorff dreht 2004 DER NEUNTE TAG über einen Pfarrer im KZ und 2014 DIPLOMATIE über die geplante, aber letztlich verhinderte Zerstörung von Paris. Ein Teil der Protestgeneration von 1968 ist in Terrorismus abgerutscht; in DIE STILLE NACH DEM SCHUSS (2000) verfolgt Schlöndorff die Geschichte der Terroristen, die in der DDR untergeschlüpft waren. Margarethe von Trotta dreht 2003 ROSENSTRASSE, ein Film über Deportationen in Berlin, und 2012 HANNAH ARENDT über den Eichmann-Prozess. Frauenschicksale sind das große Thema in der Filmografie von Margarethe von Trotta. ICH BIN DIE ANDERE (2006) handelt von einer traumatisierten Tochter, VISION (2009) beschäftigt sich mit dem Leben der Hildegard von Bingen. Alle diese Regisseure sind im Vergleich zu ihren rebellischen Anfängen dramaturgisch und ikonografisch ziemlich glatt geworden.
Anders ist es bei Wenders und Herzog, die beide in ihren letzten Filmen einen sympathischen Greisenavantgardismus entwickelt haben. Herzog hat brisante Themen wie Todesstrafe oder Muttermord entdeckt (TOD IN TEXAS/2011, MY SON, MY SON, WHAT HAVE YOU DONE/2009). Wenders, mit seinem Faible für Americana, porträtiert ein verletzlich gewordenes Land in privaten Dramen (LAND OF PLENTY/2004, DON’T COME KNOCKING). 2008, in PALERMO SHOOTING, philosophiert er mit Rockmusik, Antonioni und der Kunstgeschichte über die Präsenz des Todes im Leben. Beide arbeiten auch in 3D mit wirklich überzeugenden Beispielen. Herzog präsentiert die Steinzeithöhle von Chauvet (HÖHLE DER VERGESSENEN TRÄUME/2010) und Wenders vermittelt das Tanztheater von Pina Bausch (PINA/2011). Herzog, der vielgeschmähte Mystagoge, hat einen späten Zugang zu Formen der Evidenz gefunden, während Wenders, der mit einem lockeren Realismus startete, zu immer verrätselteren Formen greift.
Wim Wenders war der einzige Filmhochschulabsolvent unter den Genannten. Die Folgegenerationen sind aber stark durch das Ausbildungssystem der Filmhochschulen (vor allem in Berlin und München) geprägt. Die Zahl der Filmemacher ist trotz des geringen Markterfolgs sehr groß; vielfach erreichen die Filme aber erst mit dem Fernsehen ein großes Publikum. Deutsche Filme sind oft bescheiden im Budget und können so mithilfe der umfangreichen Filmförderung auch bei geringen Eigenmitteln produziert werden. Aber nur wenige Regisseure können einigermaßen regelmäßig arbeiten.
Dazu gehört Christian Petzold, Absolvent der DFFB und bekanntester Vertreter der Berliner Schule. Er steht für einen Stil, der mehr beobachtet als zeigt, entweder von weitem oder aus ungewöhnlichen Winkeln wie ein zufälliger Beobachter. Die Bilder wirken oft wie hingehaucht, auch dank einer neuen Generation von Kameraleuten. Weniger die Geschichte als die Psyche der Akteure steht im Vordergrund. Diese Charakteristik gilt aber auch für Filme weit über die Berliner Schule hinaus. Seine Karriere startet 2000 mit einen Film über ehemalige RAF-Leute auf der Flucht (DIE INNERE SICHERHEIT). Es folgen weitere Themen über verzerrte Identitäten, eine Frau, die sich in der Finanzwelt verliert (YELLA/2007), ein traumatisierter Afghanistan-Rückkehrer (JERICHOW/2008), ein Waisenkind, das seine Familie sucht (GESPENSTER/2005) oder eine DDR-Ärztin, die ihre Flucht plant (BARBARA/2012). Angela Schanelec, eine andere Exponentin der Berliner Schule, porträtiert 2001 zwei Freundinnen in MEIN LANGSAMES LEBEN. Viele fühlen sich an Rohmer erinnert, aber ihr Stil ist noch zurückgenommener, oft sind es nur schweigende Personen in Tableaux. Menschen und Orte sind ein großes Thema von ihr (MARSEILLE/2004, ORLY/2010). Das klingt langweilig, kann aber durchaus spannend sein, wenn man sich darauf einlässt.
Hans-Christian Schmid und Dominik Graf kommen von der HFF in München. Oft sind ihre Filme ähnlich sensibel wie die Berliner Schule, aber ein Faible für amerikanisches Kino und eine aktionsreiche Dramaturgie ist unübersehbar, man darf mit einiger Vorsicht von einer Münchner Schule reden. Filme wie WAS BLEIBT (Schmid, 2012) oder DER FELSEN und DER ROTE KAKADU (Graf, 2002 und 2006) behandeln Depression und Jugendprobleme in West und Ost. Hier sind Bezüge zur Berliner Schule zu finden. Ein Dorfkrimi wie DAS UNSICHTBARE MÄDCHEN von Graf (2011) oder REQUIEM von Schmid (2006) über einen tödlichen Exorzismus sind eher bodenständig. Andreas Dresen, der von der HFF Babelsberg kommt, steht in einer eher ostdeutschen Tradition von Filmen, die mit Milieustudien arbeitet. DIE POLIZISTIN (2000) behandelt einen Fall von Umschulung, HALBE TREPPE (2002) verfolgt zwei Paare überkreuz, SOMMER VORM BALKON (2005) befasst sich mit den Liebeleien zweier Freundinnen und selbst das Thema Hirntumor (HALT AUF FREIER STRECKE/2011) hat bei ihm einen Zilletouch.
Die große Achtung vor dem amerikanischen Genrekino schlägt sich bei Tom Tykwer und Oskar Roehler auf sehr verschiedene Weise nieder. Actionkino in seiner postmodernen Variante steht bei Tykwer Pate für Filme wie DER KRIEGER UND DIE KAISERIN (2000), HEAVEN (2002) und DAS PARFÜM (2006). Inzwischen ist Tykwer auch in Hollywood zu Hause. Roehler ist den schrillen Komödien und exaltierten Melodramen verpflichtet. Seine biografischen Filme DIE UNBERÜHRBARE (2000) und QUELLEN DES LEBENS (2013) schrecken vor keiner Peinlichkeit zurück und sein JUD SÜSS (2010) macht aus dem Dritten Reich einen Mummenschanz. Mit DER ALTE AFFE ANGST (2003) probt er schon für das Sexdrama ELEMENTARTEILCHEN (2006) nach Houellebecq. Ansonsten gibt es im deutschen Kino immer schon Komödien, über die man besser schweigt, aber zwei Migranten haben die seit langem besten deutschen Komödien gedreht: Bora Dagtekin verwurstet das deutsche Bildungssystem in FUCK YOU GÖHTE (2013) und Yasemin Sandereli liefert die türkische Version von ALEMANYA (2011). Migranten stellen einen Gutteil der heutigen Regiegeneration. Fatih Akin hat dabei ein internationales Renommee gewonnen. GEGEN DIE WAND (2004) und AUF DER ANDEREN SEITE (2007) kritisieren in einem wild-genialischen Stil türkischen Traditionalismus. In der Türkei spricht man von Nestbeschmutzerei. Feo Aladag, die mit einem Migranten verheiratet ist, thematisiert mit DIE FREMDE (2010) den Ehrenmord.
Ein deutliches Indiz für die Probleme am deutschen Filmmarkt ist der Umstand, dass seit 2000 viele Regisseure nur einen Spielfilm von Rang geschaffen haben, oft ist es der einzige. Caroline Link hat mit NIRGENDWO IN AFRIKA (2001) auf Anhieb einen Oscar geschafft und konnte an den Erfolg doch nicht anknüpfen. Selbst elementar deutsche Themen bleiben Unikate. Wolfgang Becker ist die einzige Wendekomödie mit GOOD BYE, LENIN! (2003) gelungen. Sönke Wortmann dreht 2003 sehr professionell den Fußballfilm DAS WUNDER VON BERN. Hans Weingartner behandelt in DAS WEISSE RAUSCHEN (2002) das Thema Drogen-Schizophrenie. 2008 kommt Uli Edel mit einem ziemlich frechen BAADER MEINHOF KOMPLEX heraus. Dennis Gansel gelingt mit DIE WELLE (2008) ein interessantes Experiment zum Neonazi-Phänomen. Von Emily Atef stammt die bedrückende Studie zu einer schweren Nachschwangerschafts-Depression (DAS FREMDE IN MIR/2008). Und Doris Dörrie versucht sich mit gemischtem Erfolg immer wieder an ihrem Unglücksthema GLÜCK (2012). Von Oliver Hirschbiegel kommt 2004 DER UNTERGANG über die letzten Kriegstage in Berlin, ein ebenso professioneller wie umstrittener Film. Ähnliches gilt für Florian Henckel von Donnersmarck mit dem Stasi-Film DAS LEBEN DER ANDEREN (2006).
Zwischendrin gelingen Filme, die atemberaubend sind, ohne dass die Filmemacher deswegen einen Produktionsbonus bekommen. 2007 dreht Chris Kraus VIER MINUTEN. Eine alternde Klavierlehrerin findet ausgerechnet in der schwierigen Insassin eines Frauengefängnisses ihre Meisterschülerin. Das Spiel von Monica Bleibtreu und Hannah Herzsprung ist unglaublich intensiv. Dagmar Knöpfel dreht 2005 DURCH DIESE NACHT SEHE ICH KEINEN EINZIGEN STERN über die tschechisch-deutsche Autorin Božena Němcová. Es ist ein Film über eine schreibende Frau mit einer schrecklichen Fallhöhe. Das konzentrierte Spiel von Corinna Harfouch in diesem dichten Film ist umwerfend. In eine eigene Klasse gehört bestimmt Romuald Karmakar. Er ist mit seiner radikalen Formsprache vielleicht der originellste Auteur im deutschen Kino. Eine Spezialität von Karmakar sind inszenierte Textlesungen, die den Zuschauer zwingen sich konzentriert und stundenlang mit Ideologien wirklich auseinanderzusetzen. Wo sonst in den Medien nur Schnipsel vorkommen, lässt Karmakar eine Himmlerrede über das zukünftige Europa oder einen prominenten Hassprediger in voller Länge, aber in gestellter Rede zu Wort kommen (DAS HIMMLER PROJEKT/2000 und HAMBURGER LEKTIONEN/2006). Aber Karmakar kann auch Spielfilme in der Tradition von Schlingensief drehen, wie MANILA (2000), der gestrandete Touristen in einem Flughafen in eine gemeingefährliche Clownstruppe verwandelt.
Mitunter gelingen auch Filme von einer Leichtigkeit, die man dem deutschen Kino nicht zugetraut hätte. Leander Haußmanns HERR LEHMANN (2004) und Jan Ole Gersters OH BOY (2012) sind kleine Schelmenstücke um junge Männer, die nicht erwachsen werden wollen; das beste Biotop für diesen Typ findet sich natürlich in Berlin. Auch DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN von Ramon Zürcher (2013) ist so locker hingeworfen wie eine Skizze von Dufy, obwohl viel unmerkliches Kalkül dabei ist. Seit den galoppierenden Finanzkrisen gibt es auch vermehrt Filme aus der postmodernen Arbeitswelt. Dokumentationen wie WORK HARD – PLAY HARD (Carmen Losmann/2011) und MASTER OF THE UNIVERSE (Marc Bauder/2013) sind ganz neue eigenartige Berichte aus dem Leben der Aliens mitten unter uns.
Vieles kann in einer so gerafften Übersicht nicht dargestellt werden. So gibt es reizvolle Regionalfilme (z.B. bayerisch oder allgäuisch), eine rege Undergroundproduktion (z.B. Jörg Buttgereits Horrorfilme) oder Künstlerfilme wie die von Herbert Achternbusch (z.B. DAS KLATSCHEN DER EINEN HAND/2002).
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