Artikel aus CINEPUR Nr. 96 (November/Dezember 2014)
zum Schwerpunkt »Aktueller Deutscher Film«


Čestmír Lang, Anna Tyszecka


Gespenster-Trilogie
Der komplexe Minimalismus von Christian Petzold


In der alternativen deutschen Filmszene, die im Ausland kaum Gehör bekommt und vom einheimischen Publikum in der Regel ignoriert wird, tauchte vor ungefähr zehn Jahren eine Gruppe von Filmemachern auf, die das Konzept vom »Filmmärchen« ablehnte. Man strebte eher nach einer nüchternen Beobachtung der realen Umstände im heutigen Deutschland. Der am meisten beachtete Autor in dieser Gruppe ist Christian Petzold, der für unzählige seiner Filme bereits insgesamt fünf deutsche Filmpreise erhielt und für den Film BARBARA (2012) auf der Berlinale als bester Regisseur ausgezeichnet wurde. Erst dieses einzigartige Portrait einer Ärztin, die Mitte der achtziger Jahre beschloss aus Honeckers kommunistischem »Paradies« zu fliehen, erweckte beim deutschen Publikum ein größeres Interesse an Petzolds vorherigen Werken. Besonders eindrucksvoll sind dabei die Filme DIE INNERE SICHERHEIT (2000), GESPENSTER (2005) und YELLA (2007), die allgemein als Gespenster-Trilogie bekannt sind.

Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre ist Christian Petzold als wichtigster Vertreter der Berliner Schule, einer Gruppe von Filmemachern jungen und mittleren Alters, bekannt. Die Gruppe legt einen besonderen Wert auf eine unabhängige Arbeit von Autoren. Außer Angela Schanelec und Thomas Arslen, beide Absolventen der Deutschen Akademie für Film und Fernsehen (dffb), studierten die meisten jungen Regisseure, wie Christoph Hochhäusler, Benjamin Heisenberg oder Maren Ade, an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in München und kamen später zu der Gruppe dazu. Aber auch Ulrich Köhler, der Lebenspartner von Maren Ade fühlt sich der Berliner Schule zugehörig.

Die erwähnten Filmschaffenden teilen einen kritischen Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft in Deutschland. Nach der Wiedervereinigung wich die ausgeglichene soziale Marktwirtschaft dem harten, amerikanischen globalisierten Kapitalismus. Die Filme der Berliner Schule haben einen entspannten und eher langsamen Rhythmus und geben dem Publikum genug Raum für eigene Interpretationen. In der von Hochhäusler und Heisenberg herausgegebenen Zeitschrift Revolver kommt die Gruppe zu Wort.

Berlin, Genres, Politik

Christian Petzold verbrachte seine Kindheit in der 22.000-Einwohner-Stadt Haan, irgendwo zwischen Wuppertal und Düsseldorf. Seine Eltern stammten aus der DDR, gingen aber schon vor dem Mauerbau in den Westen. Bereits in seiner Kindheit war er ein leidenschaftlicher Leser und genauer Beobachter dessen, was um ihn herum geschieht. Aus seiner Kindheit ist ihm u.a. eine Erinnerung aus der Zeit im Kopf geblieben, als sein Vater vier Jahre lang arbeitslos war: »Die Konflikte in der Familie nahmen zu und die Physiognomie und das Verhalten meines Vaters ähnelten einem Wunder.« Die Stadt, in der er aufgewachsen ist, beschreibt er wie folgt: »Meine ganze Kindheit über hatte ich den Eindruck, dass in Haan nie der Wind wehte. Sobald sich die Gelegenheit ergab, stieg ich aufs Fahrrad und fuhr ins Rheintal, wo es angenehm windig war.«

Er begann an der FU in Berlin Literatur zu studieren, wechselte jedoch später an die Deutsche Film-und Fernsehakademie, um dort Regie zu studieren. Im Studium lernte er die zwei etwas jüngeren Filmregie-Studenten Thomas Arslan und Angela Scalenec und seine spätere Lebenspartnerin, die türkisch-stämmige Dokumentarfilm-Regisseurin Aysun Bademsoy kennen, die ihm bei seinen ersten langen Filmen zur Seite stand. 

Gleich zu Beginn seines Studiums 1988 beeinflussten ihn die sozial engagierten Filme seiner Lehrer Hartmut Bitomski und vor allem die von Harun Farocki, einer der innovativsten Dokumentaristen weltweit. Farocki beteiligte sich von DIE BEISCHLAFDIEBIN (1998) bis PHOENIX (2014) dramaturgisch an allen Filmen Petzolds. Ausgeschlossen waren die ersten zwei Filme PILOTINNEN (1996) und CUBA LIBRE (1998).

Bei einem näheren Blick auf die Struktur von Petzolds Filmen ist zu sehen, dass er sich von unterschiedlichen Genres inspirieren ließ: DIE INNERE SICHERHEIT erinnert an eine Verfolgungsjagd. GESPENSTER ist, metaphorisch ausgedrückt, ein Märchen von zwei Mädchen, die durch den Berliner Tiergarten irren, als wäre es ein tiefer Wald voller Fallen, in TOTER MANN von 2001 wird eine Liebesgeschichte mit Horrorelementen verbunden. WOLFSBURG aus dem Jahr 2003 ist eine verkehrte Liebesgeschichte. Der Film YELLA basiert auf einer fantastischen Kurzgeschichte aus dem 19. Jahrhundert des amerikanischen Klassikers Ambroise Biercy, ein Nachfolger von E.A. Poe, die schon 1962 von dem französischen Regisseur Robert Enrico unter dem Titel LA RIVIÈRE DU HIBOU verfilmt wurde.

2007 schloss Christian Petzold mit seiner Gespenster-Trilogie ab, die als Höhepunkt seiner bisherigen Arbeit bezeichnet werden kann. Protagonistinnen in seinen Filmen sind weibliche Figuren, deren Existenz auf eigenartige Weise zerbrechlich wirkt, als kämen sie von einem anderen Planeten. In DIE INNERE SICHERHEIT wird die fünfzehnjährige Jeanne von ihren angeblichen Eltern genau beobachtet, damit sie ihre terroristische Vergangenheit nicht verrät. Nina aus dem Film GESPENSTER lebt in einem Kinderheim. Sie ist so dünn wie ein Grashalm und hält sich an der etwas älteren Landstreicherin Toni, die für sie ein Vorbild ist und ihr zeigt, wie man durch die Welt kommt. Im Film YELLA beschließt die Protagonistin, trotz ihrer Liebe zu ihrem Vater, ihre ostdeutsche Heimat zu verlassen und in das wirtschaftlich erfolgreiche Hannover zu ziehen.

DIE INNERE SICHERHEIT: Sicherheit und Unsicherheit:


Hans (Richy Müller) und Clara (Barbara Auer), ehemalige RAF-Terroristen, und das Mädchen Jeanne (perfekt gespielt von Julia Hummer), die gar nicht weiß, ob sie mit ihren leiblichen Eltern lebt oder ob sie das Kind anderer Terroristen ist, sind seit fünfzehn Jahren auf der Flucht vor der deutschen Justiz. Als ihnen die portugiesische Polizei auf die Spur kommt, beschließen sie zurück nach Deutschland zu gehen, in der Hoffnung Hilfe von ehemaligen Gleichgesinnten zu bekommen. Den ständigen Warnungen von Hans und Clara zum Trotz, sehnt sich Jeanne nach Erlebnissen in der umliegenden Welt.

Sowohl DIE INNERE SICHERHEIT als auch Petzolds Gespenster-Trilogie bedeuten im Vergleich mit seinen vorherigen Filmen eine eindeutige Verschiebung in Richtung der Fragmentierung der Erzählweise. Wir erfahren fast nichts über die Vergangenheit der Figuren und außerdem müssen wir aus der minimalistischen Schauspielerei ihrer Protagonisten ein Puzzle erstellen, bei dem wir uns gar nicht sicher sein können, ob sie der Realität der Leinwand entspricht. Petzold reduziert die ohnehin wenigen, zumeist banalen, Dialoge. Das Fehlen wichtiger Informationen – ähnlich wie bei Krimis oder Horrorfilmen – erwartet eine höhere Konzentration vom Publikum, um die Geschichte zu verstehen und die Motivation der Figuren zu enthüllen.

Diese These wird in der eindrucksvollsten Szene des Films demonstriert, in dem kein Wort gesprochen wird. Diese Szene beinhaltet etwas, was als ikonische Botschaft betrachtet werden kann, weil er in einer ambivalenten Verkürzung die zehnjährige tragische Konfrontation zwischen der RAF und der Staatsmacht aufzeigt. Nach der Flucht der Terroristen aus dem Hotel, in dem die Polizei eine Razzia durchführt, folgt eine Szene auf einer leeren Kreuzung. Der Volvo der Terroristen hält bei Rot. Von drei Seiten fahren Autos heran und eines hält sogar in der Richtung, in der die Ampel Grün haben sollte. Langsam nähert sich eine schwarze Limousine dem Volvo und hängt sich an das Auto ran. Die Spannung in dem Volvo wird durch einen schnellen Schnitt der überraschten Blicke von Hans und Clara erhöht. Ein Mann steigt aus der Limousine und stellt sich zwei Meter vor das Auto. In den Gesichtern der beiden ist ein Wechsel zwischen Angst und Resignation zu sehen. Hans steigt langsam aus dem Auto, geht zu dem Mann und hebt beide Arme nach oben. Daraufhin folgt eine ungefähr zehn Sekunden lange unheimliche Stille. Der Mann schaut sich Hans ganz genau an, geht langsam zurück und setzt sich wieder ans Steuer der schwarzen Limousine und fährt an dem Volvo vorbei. In der letzten Aufnahme ist ein Panorama der Kreuzung zu sehen, an der der einsame Hans steht und dabei beide Hände auf dem Kopf hält.

GESPENSTER: Körpersprache

Die minderjährige Nina (Julia Hummer) lebt in einem Kinderheim. Im Berliner Tiergarten lernt sie die etwas ältere Toni (Sabine Timoteo) kennen, die sie für ihr Selbstbewusstsein und Auftreten bewundert. Gleichzeitig packt Françoise (Marianne Basler) ihre Sachen in einer Psychiatrie-Klinik, in der sie sich jedes Jahr von dem Schock erholt, der durch die Entführung ihrer Tochter Marie in einem Berliner Supermarkt vor zehn Jahren ausgelöst wurde. Françoise ist davon überzeugt, dass Marie in Berlin lebt und dass sie sie früher oder später findet und sie an einem Muttermal am Hals und einer Narbe an der Wade erkennt. Bei einem zufälligen Treffen mit Nina erkennt sie an der gleichen Stelle eine Narbe. Davon überzeugt, dass sie ihre Tochter gefunden hat, bietet sie ihr ein Leben in der reichen Familie an. Ninas Schwanken zwischen der angebotenen Sicherheit und der anarchistischen Freiheit ohne Verpflichtungen, die sie von Toni kennenlernt, gibt der Geschichte ihre Kraft.

In GESPENSTER greift Petzold mit seiner Zurückhaltung Informationen zu vermitteln noch viel weiter als in DIE INNERE SICHERHEIT. Das vielleicht beste Beispiel ist eine Szene im Film, in der die vier Hauptfiguren minutenlang konsequent von hinten gefilmt werden. In der ersten Sequenz ist Pierre (Aurélien Recoung), der Mann von Françoise, vom Hintersitz des fahrenden Autos gefilmt. Danach wird eine Szene gezeigt, in der Nina in Arbeitskleidung den Rasen im Tiergarten aufräumt. Erst nach einer längeren Pause dreht sich das Mädchen um und zeigt dabei ihr Gesicht. Im Hintergrund erblickt sie Toni, die gerade auf brutale Weise von zwei Männern belästigt wird. Das Fehlen von Emotionen wird in GESPENSTER durch Körpersprache ersetzt. Der Zuschauer muss dadurch die Figuren viel mehr »spüren«, als dass er sich auf die minimalistische Schauspielerei und die kurzen Dialoge verlassen könnte. Der Zuschauer muss z.B. darauf reagieren, wie verkrampft Francoise vor ihrem ersten Treffen mit Pierre in der Klinik reagiert, bei dem er ihr rät nach Frankreich zurückzukehren. Auf ähnliche Weise versucht Nina mit ihrem frechen Gang ihre Erzieherinnen im Internat davon zu überzeugen, dass sie nichts Schlimmes angestellt hat.

Petzold beschreibt die Schauspielerei eher als ein Lesen von emotionalen Zeichen: »Aus Erfahrung weiß ich, dass es viel nützlicher ist, den Schauspielern einen kurzen Vergleich anzubieten, als lange zu psychologisieren. Es ist viel einfacher ihnen zu sagen, dass diese Frau das Feuer darstellt und dieser Mann das Wasser. Damit kann man viel besser arbeiten.« So beschreibt Petzold seine individuelle Arbeit mit seinen Schauspielern. Eine der großen Szenen im Film GESPENSTER ist diesbezüglich ein einsamer Tanz von Toni und Nina auf einer Party vor einem Casting. Toni nähert sich schrittweise ihrer Freundin und füllt damit den kalten bordeauxroten Saal mit erotischem Knistern, die zwischen der lesbischen Annäherung und einer raffinierten éducation sexuelle schwanken.

YELLA: Bewusstseinsblitze

Der geheimnisvolle Name Yella für die Hauptdarstellerin in Petzolds gleichnamigen Film stammt von der achtjährigen Hauptdarstellerin in Wim Wenders Film ALICE IN DEN STÄDTEN aus dem Jahr 1974. Petzold hat sich zwar nicht explizit dazu geäußert, dass es Parallelen zwischen den beiden Protagonistinnen gibt, man findet sie trotzdem u.a. in dem Mut und in der permanenten Aktivität beider Heldinnen, die sie bei ihren Reisen während der Zeit verwirklichen.

Der Autor ließ sich nicht nur von der bereits erwähnten Erzählung von Biercy inspirieren, sondern auch vom amerikanischen Horrorfilm CARNIVAL OF SOULS aus dem Jahr 1962. In dem Film entscheidet sich eine Organistin eine Stelle in der Stadt der Mormonen Salt Lake City anzunehmen. Auf dem Weg dorthin wird sie jedoch Opfer eines schlimmen Autounfalls. Petzold benutzt dieses Motiv mit einer Abänderung, in der Yella (Nina Hoss) einen schicksalsträchtigen Unfall auf einer Brücke überlebt. Die Brücke überquert die Elbe und teilt die ostdeutsche Kleinstadt Wittenberge, in der jeder Zweite arbeitslos ist, vom reichen Bundesland Niedersachen. Wie durch ein Wunder überlebt Yella den Unfall und später sieht der Zuschauer sie erst in einem roten Kleid im Zug auf dem Weg nach Hannover wieder. Seit dem Sturz von Yellas Auto von der Brücke in die Elbe lässt Petzold den Zuschauer sich mit der Frage zu beschäftigen, ob er die Vision der Protagonistin oder eher das reale Verhalten der Figur beobachtet, die den Unfall überlebt hat. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der Mann, den Yella in Wittenberge verlassen hat, die gleiche Kleidung trägt, wie ihr neuer Liebhaber Philipp (Devid Striesow). Mit Philipp kommt ein beliebtes Thema von Harun Farocki zur Vorschein: Der Finanzkapitalismus. Die Sequenz, in der Striesow und Hoss über einen Kredit für ein erfolgsversprechendes Unternehmen verhandeln, dem aber noch eine Finanzspritze fehlt, basiert auf Farockis einzigartigem Dokument NICHT OHNE RISIKO aus dem Jahr 2004. Hier hat Petzolds ehemaliger Lehrer und Freund eine 12-stündige Aufnahme einer Verhandlung eines bayrischen Unternehmers mit einer britischen Bank zusammengeschnitten, in der sich die Bank darum bemüht, ihn von einem Kauf von Fonds-Anteilen zu überzeugen, bei dem er einen großen Gewinn machen wird. Gekonnt gelingt es Petzold so in YELLA die Motive aus einem Horrorfilm mit dem Thema Finanzkapitalismus zu verbinden.

Einen wichtigen Beitrag für die Stärke des Films YELLA trug sicherlich Nina Hoss' schauspielerisches Talent bei, in dem verschiedene Akzente zusammenkommen – von der verführten Frau bis zur Verführerin. Seit Beginn ihrer Beziehung mit Philipp ist sie nicht seine Schülerin, sondern sie schreitet als gleichberechtigte Partnerin aktiv in seinen Plan ein. Yellas Reaktionen wirken gedämmt, als kamen sie aus ihrem Inneren. Umso stärker wirkt bei Yella ihr angedeutetes Lächeln. Die Schauspielerin nimmt auf souveräne Weise Petzolds »Bresson-Prinzip« – weniger ist mehr – an. 2007 gewann sie auf der Berlinale den silbernen Bären für ihre schauspielerische Leistung.

Ausgehend aus den bereits erwähnten Aspekten kann hier der Versuch gewagt werden einige entscheidende Züge in Petzolds Einzigartigkeit zu formulieren. Zweifellos ist hier die schauspielerische Besetzung entscheidend, die fast schon Dimensionen á la Bergmann erreicht. Zu seinem engeren Kreis gehören die Schauspieler Nina Hoss, Devid Striesow und Ronald Zehrfeld. Alle drei spielten auf großen Theaterbühnen und stellen ausdrucksstarke und gegenwärtige Typen vor. Petzold besetzt sie für seine Rollen manchmal aufgrund ihrer Typologie oder auch trotz ihrer Typologie. Dabei profitieren jedoch beide von dieser Zusammenarbeit.  

In Interviews reflektiert Petzold seine Arbeit mit den Schauspielern oft:
»Wenn Schauspieler vor dem Drehen etwas Bestimmtes gefühlt haben, Angst, Liebe oder Kälte erlebt haben, dann stecken sie damit das ganze Umfeld an. Der Regisseur muss das erkennen und sich dem stellen. Das heißt aber nicht, dass er aus lauter Not an dieser Stelle Musik einsetzt, weil die Schauspielerin heute kalt oder sogar frigide und der männliche Darsteller gerade total neben der Spur ist.« Die Schauspieler haben zwar ein Drehbuch zur Verfügung, aber ihre Vorschläge inspirieren die Dreharbeiten und können eine bereits vorbereitete Szene ausschlaggebend verändern. Das Thema eigene Regie-Methoden kommentiert Petzold wie folgt: »Die derzeitige Filmdramaturgie weiß mehr über ihre Figuren und ihre Schicksale, als es überhaupt nötig ist. Der Autor muss seinen Figuren gegenüber demütig und diskret bleiben, er muss sie respektieren. Ich möchte nie alles über die Figuren wissen. Ich möchte, dass sie ihr Geheimnis für sich behalten. Sie sollen auf der Bühne ihre Individualität für sich behalten.«

Die bereits wiederholt erwähnte Zusammenarbeit mit Harun Farocki stärkte in Petzold die kritische Tendenz gegenüber der deutschen Politik und ihrer ignoranten Härte gegenüber den bildungsfernen Schichten, die insbesondere in der sozialdemokratischen Politik und später unter der Großen Koalition in den Nuller Jahren sichtbar wurde. In diesem Zusammenhang sollte außer YELLA auch der Film JERICHO erwähnt werden. Besonders die Szene beim Gurken sammeln ist ausschlaggebend und erinnert an das Foltergerät in Kafkas Erzählung »In der Strafkolonie«.

Im Gegenteil. Petzolds Inspiration durch literarische Werke wird oft überbewertet, obwohl das Thema in seinen Interviews oft dominiert. Dem Autoren geht es vor allem um das Schaffen von Reaktionen und unendlichen Geschichten, sei es die Erzählung von Biercy in YELLA oder die originelle Version von James. M. Cains weltweit bekanntem Roman »Wenn der Postmann zweimal klingelt« im Film JERICHO. Dort soll ein türkischer Geschäftsmann das Opfer werden, wobei er Mecklenburgern Dorfbewohnern zeigt, wie man reich wird.

PHOENIX: Meisterwerk oder Provokation?

Mit seinen neuen Film PHOENIX kehrt Petzold zurück in die Stunde Null der deutschen Geschichte, die bislang in der modernen deutschen Kinematographie kein Gehör bekam. Nelly (Nina Hoss) kommt im Juni 1945 aus dem Konzentrationslager in das zerstörte Berlin. Bei Verhören wurde sie von der Gestapo brutal gequält, was ihr Gesicht zur Unkenntnis zerstörte. Begleitet wird sie von Lene (Nina Kunzendorf) ihrer besten Kindheitsfreundin, die ihr nahelegt nach Nellys Gesichtsoperation gemeinsam nach Palästina zu emigrieren. Nelly, die bei den Verhören nie ihren Mann Johnny verriet, hat nur einen Wunsch: ein mit Liebe erfülltes Leben mit ihrem verlorenen Partner zu leben. Um sie herum werden jedoch Stimmen laut, die sagen, dass es gerade Johnny war, der sie bei der Gestapo verraten hat. Auch Lene vermutet dies.

Im ersten Teil des Films spielt Petzold mit stilistischen Mitteln des deutschen Expressionismus der zwanziger Jahre und den schwierigen Jahren 1945-47 (Schwarzmarkt, Diebstähle und Prostitution). Das übergeordnete Volk, das es vor kurzem noch gab, verwandelte sich in eine ängstliche, formbare Masse, die der Welt vorgab, nichts über den Holocaust zu wissen und den Juden im Osten sogar geholfen habe. Die ganze Hoffnung konzentriert sich auf die Zukunft, aber die ist noch lange nicht sichtbar – die Siegermächte haben sich noch nicht auf die Zukunft Deutschlands geeinigt.

In dieser Situation entscheidet sich Nelly, ihre Rückkehr als Show zu inszenieren, bei der sie als berühmte Sängerin an die Vorkriegssituation anknüpft. Nelly, die vor dem Krieg gesungen hat, kommt in einem roten Kleid gekleidet mit dem Zug und roten High Heels aus Paris. Petzold lässt den Zuschauer entscheiden, ob Johnny wirklich Nelly helfen möchte, sich von ihrem Trauma zu befreien oder ob er nur an ihrem Erbe interessiert ist, das von der im Holocaust ermordeten Familie übrig blieb.

Es entsteht der Eindruck, dass PHOENIX bis dato Petzolds stärkster Film ist. Während in DIE INNERE SICHERHEIT die paradoxe Situation zwischen Staat und untergetauchten Terroristen und in YELLA die Methoden des globalen Kapitalismus, dessen Ignoranz zum Verlust von Menschenleben führte, gezeigt wurden, stellt PHOENIX dar, dass der Versuch die kollektive Lüge oder das Ignorieren von objektiven Fakten lediglich dazu führt, dass sich historische Fehler wiederholen. So wie es die Figur Lene gleich zu Beginn des Filmes sagt, als sie im zerstörten Berlin ankommt:
»Kaum hörten die Gaskammern auf zu arbeiten, fangen wir bereits an zu verzeihen.«


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