Artikel aus CINEPUR Nr. 96 (November/Dezember 2014)
zum Schwerpunkt »Aktueller Deutscher Film«


Lukáš Skupa


Frauenfilm nach dreißig Jahren
Margarethe von Trottas biographische Filme


Margarethe von Trotta, welche sich aus der Position einer »einfachen« Mitarbeiterin ihres ehemaligen Ehemannes Volker Schlöndorff, zu einer Autorin entwickelte, die die Preise auf Filmfestivals rund um den Globus sammelt, gehört zu den gefeierteste Regisseurinnen in der Geschichte des deutschen Films. Sie ist gleichzeitig bis heute eine der aktivsten Repräsentantinnen des Neuen Deutschen Films, dessen Vermächtnis man auch in ihren neuesten Filmen entdecken kann, den biographischen Filmen VISION – AUS DEM LEBEN DER HILDEGARD VON BINGEN und HANNAH ARENDT.

Vom Neuen Deutschen Film spricht man vor allem im Zusammenhang mit Autoren wie Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog oder Wim Wenders. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass im Rahmen des Neuen Deutschen Films auch eine sogenannte Welle von Frauenfilmen entstand, mit der in den 1970 und 1980er Jahren Regisseurinnen mit Werken über Frauen und für Frauen stark in den Vordergrund traten. International haben sich am vor allem Margarethe von Trotta und Helma Sanders-Brahms durchgesetzt, die auch zurzeit die aktivsten Schöpferinnen aus einem weiten Umkreis der damaligen Autorinnen sind. Bemerkenswert ist auch, dass sie beide gleichzeitig zum biographischen Film zurückkehren und dadurch auch zu den Wurzeln vom Frauenfilm. Während Helma Sanders-Brahms ihren letzten Spielfilm GELIEBTE CLARA im Jahre 2008 gedreht hat, ist Margarethe von Trotta grundsätzlich aktiver und dank des Erfolgs ihres letzten Films HANNAH ARENDT (2012) erwacht erneut das Interesse an ihrem Werk.  

Rote Rosa und ihre Nachfolgerinnen

Schon in den Filmen aus den 1980er Jahren, wie DIE BLEIERNE ZEIT (1981) oder ROSA LUXEMBURG (1986), welche in der Spätphase des Neuen Deutschen Films entstanden, kann man einen Hang Margarethe von Trottas zu biographischen Themen beobachten. Die Verarbeitung der Lebensgeschichte Hildegard von Bingens als Material für einen Film kam der Regisseurin schon in den 1970er Jahren in den Sinn, als sie in der deutschen Geschichte Ausschau hielt nach geeigneten Frauenfiguren, die als Vorbild für die Gegenwart dienen könnten. Auch wenn dieses Projekt erst drei Jahrzehnte später realisiert wurde, hat der Film VISION – AUS DEM LEBEN HILDEGARD VON BINGEN (2009) mit der Tradition des Frauenfilms und des Neuen Deutschen Films immer noch viel gemeinsam. Man kann sogar behaupten, dass VISION und HANNAH ARENDT eine freie Trilogie abschließen die den großen Figuren der deutschen Geschichte gewidmet ist und die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit ROSA LUXEMBURG ihren Anfang nahm.

Die drei Filme teilen einige wichtige Gemeinsamkeiten, vor allem die Auswahl der Figuren, ihre fiktive Konstruktion und die daran gebundenen Themen. Ob es sich um die sozialistische Politikerin Rosa, die christliche, mittelalterliche Mystikerin Hildegard oder die politische Theoretikerin Hannah handelt, immer geht es um eine reale Frau mit starkem Charakter, welche sich in einer von Männern dominierten Welt, durchsetzt und für ihre Meinung und Selbstständigkeit kämpft (nicht notwendig im feministischen Geist). Alle greifen mit ihren Aktivitäten mehr oder weniger in die politische Sphäre ein. Die Filme sind auch durch konkrete formale Zeichen verbunden, vor allem durch die klassische Erzählweise, in die Subjektivität in Form traditioneller Flashbacks eingreift. In allen Filmen wird die Hauptrolle von Barbara Sukowa dargestellt, welche für ihre Verkörperung etliche Preise bekam (für ROSA LUXEMBURG erhielt sie Darstellerpreis in Cannes, für HANNAH ARENDT den deutschen Filmpreis usw.).  Auch wegen ihrer Präsenz kann man von diesen Filmen als miteinander verflochten sprechen. Sukowa wurde durch Rollen selbstbewusser und tapferer Frauen, die es schaffen Konventionen und Vorurteile vom »schwachen Geschlecht« abzubauen, berühmt. Obwohl sie in jedem Film eine andere Person verkörpert, vereinigte sie diese unterschiedlichen Figuren dank ihres darstellerischen »Typus« und verleiht ihnen einen glaubwürdiges Persönlichkeitsfundament.  

Alle Filme könnten dank der ungewöhnlichen und spannenden Schicksale der historischen Persönlichkeiten, packende Dramen werden. In der Verarbeitung Margarethe von Trottas ist es aber in keinem der Filme dazu gekommen. Manchmal stößt man sogar auf Meinungen, dass die Filme der Regisseurin kalt und distanziert wirken. Die Ursache ähnlicher Urteile liegt wahrscheinlich darin, dass es sich nicht um Filme handelt die Mainstream orientiert sind, obwohl die Filme sehr wohl für ein breites Publikum gedacht sind. Von Trotta achtet sehr gründlich darauf, welche Lebensabschnitte der Figuren in dem Film erscheinen und wählt spezifische Strategien, wie sie sie dem Publikum anbietet. Dieser bedachte und rationale Zugang zum biographischen Material, zusammen mit einer antispektakulären Inszenierung der Ereignisse, könnte man als die kreative Unterschrift der Filme Margarethe von Trottas sehen. Die Regisseurin interessiert sich zuerst für die gesellschaftlichen und historischen Kontexte, in denen die Protagonisten existieren und erst nachträglich konzentriert sie sich auf die Gefühle und inneren Abläufe, welche durch diese Kontexte beeinflusst werden. Der bereits angedeutete Zugang der Regisseurin schließt aber einen emotionalen Apell nicht aus, der mit der subjektiven Dimension der Geschichte verbunden ist. 

Geschichte, Gesellschaft, Politik... und Emotionen

Wollen wir diesen Zugang verstehen, müssen wir zum Postulat vom Frauenfilm zurückkehren, wo das Genre des biographischen oder autobiographischen Films eine Schlüsselfunktion der Bewegung bildete. Die Sympathie der Regisseurinnen zu biographischem Werken war nicht durch kommerzielle Ausbeutung der Schicksale von bekannten Persönlichkeiten oder durch sensationelle, spektakuläre Bilder, motiviert. Das Ziel des Frauenfilmes war, sich zu den realen Erfahrungen realer Frauen hinzuwenden, den Erfahrungen vom eigenen Körper. Der biographische Aspekt war auch mit der Entblößung gesellschaftlicher und geschichtlicher Bedingungen verbunden, welche die Schicksale der Frauen, auch der Regisseurinnen, beeinflussten. Eine verdeckte oder selbstreflexive Agenda könnte man auch in den Geschichten Margarethe von Trottas finden. Nicht zufällig wird sie langfristig von Situationen angezogen, in welchen Frauen in konkreten geschichtlichen Zusammenhängen für ihre Meinungen, oder nur die Möglichkeit einer eigenen Äußerung, kämpfen. Sie selber war in einer ähnlichen Position, bis es ihr gelang mit ihrem Film DAS ZWEITE ERWACHEN DER CHRISTA KLAGES 1978 ihre eigene Karriere als Filmemacherin zu starten. Zuerst war sie als Schauspielerin tätig, dann in der Autorengemeinschaft mit ihrem damaligen Ehemann Volker Schlöndorff, dessen Name und Ruf eines international anerkannten Filmemachers dafür sorgte ihre gemeinsamen Projekte zu »verkaufen«. In den Augen der Öffentlichkeit blieb von Trotta lediglich doch nur die, die die Erfolge ihres Ehemannes teilt und nur schwer verschaffte sie sich die Mittel zur Realisierung eigener Projekte.

Mit dem biographischen Wissen im Hinterkopf können wir eventuell besser verstehen, wieso von Trotta den geschichtlichen, gesellschaftlichen und politischen Rahmen so in den Vordergrund stellt. Schon die ersten Bilder einiger ihrer Filme verraten viel von der Zeit in der die Frauen lebten. Hildegard von Bingen lernen wir zuerst als kleines Mädchen kennen. Die erste Sequenz des Films, mit dem Untertitel versehen »Die letzte Nacht des ersten Jahrhunderts«, spielt sich in einem Tempel ab, wo Menschen das Ende der Welt erwarten. Die vollkommen ruhige und lächelnde Hildegard ist am Morgen des nächsten Tages als erste wach, was schon auf ihre zukünftigen hellseherischen Fähigkeiten hindeutet. Schon in den nächsten Szene geschieht dann eine Abgrenzung des Raumes, in dem Hildegard ihr Leben verbringt – das Mädchen wird gegen ihren Willen vom Klosterabt aufgenommen, welcher ihr die Familien aufzeigt, die das Kloster materiell unterstützen, oder ihm Ländereien zuweisen. Gleich darauf liest er ihr eine Geschichte vor, die von der Strafe eines Mannes handelt, der nicht teilen wollte. Der Film HANNAH ARENDT wird auf der anderen Seite nicht mit Bildern eröffnet, die das frühe Schicksal der Figur zeigt, sondern mit einer Szene, in welcher Adolf Eichmann entführt wird, um in Israel für seine Mittäterschaft am Holocaust vor Gericht gestellt zu werden. Erst danach sehen wir eine nachdenkliche Hannah Arendt, die sich mit dem Fall Eichmann intensiv beschäftigen wird.

Obwohl von Trotta in ihren Drehbüchern nicht unnötig mit Emotionen arbeitet und die Konstruktion ihrer Figuren immer rational bleibt, hindert sie das Publikum nicht daran, sich mit den Figuren emotional zu identifizieren. Das emotionale Engagement war ein wichtiges Ziel nicht nur im Frauenfilm, sondern auch für die Mehrheit des neuen deutschen Films, welche sich nicht vom breiten Publikum verabschieden wollten. Schon die rebellische Außenseiter-Position, die mehrere Frauenfiguren verbindet, sowie die wenigen Augenblicke, in denen sie ihren Emotionen freien Lauf lassen, ist dafür geschaffen das Publikum emotional einzubeziehen. Von Hannah Arendt sprechen ihre Widersacher im Film so, wie sie wahrscheinlich wahrgenommen wurde: »All cleverness and no feelings« oder »All arrogance and no feelings«. In manchen Situationen lernen wir Hannah aber als eine liebende Ehefrau und Freundin kennen. Hildegard, welche die ganze Zeit hart mit ihren Vorgesetzten für ihre Gedanken kämpft, lässt ihren Emotionen erst dann freien Lauf, als ihre talentierte Schülerin Richarda, welche sie als ihre Nachfolgerin gesehen hat, stirbt.

Auch die Art der Inszenierung mancher Passagen ruft zur Annäherung mit der Titelfigur auf. Die konkrete Strategie, die von Trotta für diesen Zweck nutzt, sind Aufnahmen, in welcher die Kamera fast intim in der Nähe der Figuren verweilt – meistens auf dem Gesicht oder einem Detail von ihm – , oder sich langsam auf die Figur zubewegt. Die Frauen befinden sich in diesem Augenblick in einer starren Lage und mit ihrem Blick schweifen sie irgendwo hinter dem Bildrahmen ab. Diese Aufnahmen sind nicht ohne Sinn oder Bedeutung. Sie sind nicht deswegen da, um eine passive Figur zu beobachten, sondern eine Figur, die nachdenkt und bei der sich hinter dem Gesichtsausdruck und Blick Unruhe und innere Spannung versteckt. Die Musik hilft noch zusätzlich solche Bilder emotional aufzuladen. HANNAH ARENDT beginnt und schließt mit einer langen Aufnahme auf die Hauptfigur, die auf dem Sofa liegt, Zigarette raucht und nachdenkt. 

Garantiert ohne Spektakel

Beide Erzählstoffe würden sich unter der Regie eines Anderen in packende, spektakuläre Filme verwandeln, die die dramatischen Momente im Leben berühmter Frauen verfolgen. Es wurde bereits erwähnt, dass von Trotta sehr darauf achtet, welche Lebensabschnitte wir auf der Leinwand zu sehen bekommen. Deswegen ist es wichtig darüber nachzudenken, was in ihren Filmen nicht erwähnt wurde und was andere Filmemacher in ihr Werk über Hildegard und Arendt sehr wohl einbeziehen würden. Von dieser Perspektive aus gesehen, könnte man beide Filme als »unspektakulär« bezeichnen. Beide Filme arbeiten mit einer Art Subjektivität, die aber im Gesamtkontext ziemlich beschränkt ist. Die Entscheidung nicht weiter in das Innere der Figuren vorzudringen, geht aus der bereits erwähnten Voraussetzung hervor, die realen Erfahrungen realer Frauen darzustellen. Von Trotta geht, was die Subjektivität betrifft, nicht weiter als zu den Erinnerungen auf konkrete Situationen, die unauslöschlich zu der Biographie der Figuren gehören. Die Subjektivität lässt sie sofort fallen, wenn diese sich in die private, nach außen hin unsichtbare Welt der Figuren, einmischen wollte.

Ein bisschen irreführend ist schon der Titel des Filmes über Hildegard: VISION – DAS LEBEN DER HILDEGARD VON BINGEN. Er klingt zwar attraktiver für das Publikum, aber das Wort Vision entbehrt in dem Film jeden Sinn. Die Vision an sich hat mit dem Film nicht viel zu tun – in der Erzählung bekommen sie nur einen beschränkten Raum in ein paar »Flashbacks«. Falls von Trotta sich ausschließlich auf die mystischen Fähigkeiten Hildegards konzentriert hätte, würde ein märchenhafter Film entstehen über die wunderlichen Taten einer Heiligen, nicht aber über die Frau Hildegard als menschliches Wesen. Von Trotta nutzt Hildegards Visionen vor allem als Vorwand, um auf die Beschränkungen der mittelalterlichen Gesellschaft hinzuweisen. Wir bekommen also mehr Wissen darüber, auf welchen komplizierten Wegen Hildegard ihre männlichen Vorgesetzten davon überzeugen musste, dass sie über göttliche Visionen verfügt und das Recht diese Visionen aufzuzeichnen. Dem nüchternen Lebensablauf der mystischen Figur Hildegards entspricht auch die kahle und trübe Ausstattung der Szene – die Umgebung ist mit grauen Schattierungen gezeichnet, die Kostüme der Figuren sind von weißer oder schwarzer Farbe. 

Sehr bescheiden ist die Subjektivität auch im Film HANNAH ARENDT dargestellt. Ein großer Teil des Films konzentriert sich auf die Entstehung des berühmten Werks »Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen« und auf die folgenden kontroversen Reaktionen, die diese Schrift bei der Öffentlichkeit verursacht hat. Nach Arendt war Eichmann nämlich kein von Hass getriebener Mörder sondern nur ein einfacher Beamter, der sich von seinem Gewissen losgesagt hat und »nur« die Befehle seiner Vorgesetzten durchgeführt hat. Es wäre verlockend »Flashbacks« in den Film einzubeziehen, die sich auf die Vergangenheit Arendts beziehen würden, um die emotionale Situation, in der sie den Text schreibt oder ihre mutigen Gedanken verteidigt, nochmals zu verstärken. Arendt, selbst jüdischer Herkunft, hat sich noch vor Kriegsbeginn an Aktivitäten, die gegen den anwachsenden Antisemitismus gerichtet waren, beteiligt. Sie erlebte auch eine traumatische Situation in einem Internierungslager in Frankreich, in dem sie vor ihrer Flucht nach Amerika gefangen gehalten wurde. Von Trotta verzichtete aber auf solche »verlockenden« Augenblicke. Sie nutzte nur eine akustische Rückschau, wo der Figur Äußerungen aus dem Eichmann-Prozess wieder in den Sinn kommen und scheinbar unwichtige Erinnerungen an ihre Studienzeit, als sie mit dem Philosophen Martin Heidegger befreundet war.     

Von Trotta bekannte sich in einem der Gespräche über HANNAH ARENDT, dass sie an der Thematik vor allem die Hauptfigur faszinierte, deren Beruf es ist zu denken. Die Äußerung könnte man auch auf die anderen biographischen Aufnahmen beziehen – das Motiv des Denkens verbindet sie auf mehreren Ebenen. Wenn die Frauenfiguren eine konkrete Macht zur Hand haben, dann ist es der Intellekt, mit dem sie am Ende ihr Ziel erreichen. Auch die Autorin selber versucht ihre Figuren in Kontexten zu verstehen, in denen sie hineingehören, ohne sich in eine detaillierte Analyse zu stürzen oder ihre Taten zu beurteilen. So wirken diese Frauen, trotz der historischen Bedeutung, die sie für die deutsche Geschichte haben, als natürliche menschliche Wesen, mit denen das Publikum eine emotionale Verbindung eingehen kann. Auch wenn einige die Filme Margarethe von Trottas von der formalen Seite aus gesehen als »lauwarm« oder zu konservativ betrachtet werden, dienen sie mindestens als interessante Beispiele für die Kontinuität des Neuen Deutschen Films – eine der berühmtesten Etappen in der Geschichte der deutschen Kinematographie. 


Weitere Artikel aus dem cinepur-Projekt zum deutschen Film