Tonfilmkrieg / Tonfilmfrieden. Materialien zum 15. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 20. - 24. November 2002.

Sprachprobleme


Karambolage mit René Clair
Von Wilhelm Karl Gerst


Pressenachrichten zufolge hat René Clair bei einem Tee im Hotel Adlon gesagt, die Herstellung von fremdsprachigen Versionen, bei denen Schauspieler in ihrer Sprache nachsprechen, was andere in anderer Sprache im Bilde gesprochen haben, sei der denkbar unkünstlerischste Vorgang.
In jedem humanistischen Gymnasium wird den Schülern versichert, das Lesen Homers in der Ursprache sei höchstes Glück und einziger künstlerischer Genuß. Dieser Genuß allein rechtfertige das Studium der griechischen Sprache. Jede Übersetzung sei ein Surrogat.
Immer, wenn es sich um die Übersetzung eines Kunstwerks handelt, gibt es Stimmen, die auf das angeblich Unkünstlerische dieses Vorganges hinweisen. Das Kunstwerk sei einmalig, der Übersetzer verändere seine Struktur und nehme ihm die Atmosphäre, aus der es entstanden ist.
Auf der Tagung einer bekannten Theaterorganisation hielt kürzlich ein Kunstprofessor aus Dresden einen Vortrag, in dem er radikal bestritt, daß es überhaupt so etwas wie eine Filmkunst geben könne. Film sei eine technische Angelegenheit, niemals Kunst. 
Der Völger-Ausschuß hat dem neuen Film René Clairs, DIE MILLION, das Prädikat "künstlerisch wertvoll" versagt. Er hält ihn für künstlerisch belanglos oder gar für künstlerisch wertlos. Jüngst hat in einer Sitzung der Kinotechnischen Gesellschaft mein Mitarbeiter, Ingenieur Thun, sehr zu meinem Entsetzen, die These aufgestellt, das freie Sprechen sei keine Kunst, aber im Rahmen der Vorschriften des Nachsynchronisierens sprechen, das sei Kunst.
Meine Meinung? Ich finde, es ist das Interessanteste an der Kunst, daß sich jeder unter ihr etwas anderes vorstellt. Und - keines der angeführten Urteile ist apodiktisch.
Kommt es in der Kunst überhaupt auf das "Was" an. Ist nicht vielmehr das "Wie" ausschlaggebend? Soll man einen Film, der in seiner Urfassung anderssprachigen Völkern (nicht Völgern!) künstlerisch wertvoll und verständlich ist, in der Sprache dieser Völker nachsynchronisieren? Dazu liegt keine Veranlassung vor. Was aber soll mit den Filmen geschehen, die in ihrer ursprünglichen Fassung in einem anderen Lande nicht verständlich sind? Lassen wir die wirtschaftlichen Fragen einmal ganz außer Betracht. Sollen diese Filme auf ihr Land beschränkt bleiben? Ist die Wiederherstellung der Internationalität durch das technisch heute zu großer Vollendung entwickelte Mittel der Nachsynchronisation nicht in vielen Fällen für alle beteiligten Länder ein künstlerischer Gewinn?
Die Aufgabe des Schauspielers bei der Nachsynchronisation ist zweifellos eine nachschaffend-künstlerische, deren Eigengesetzlichkeit wir heute zu sehen beginnen. Da wir den besonderen Reiz dieser künstlerischen Aufgabe erkannt haben, müssen wir Ihnen, René Clair, heftig widersprechen, wenn Sie sagen, dieses ganze Beginnen sei unkünstlerisch.
Ein bekannter Maler pflegte auf die Frage "Was ist Kitsch?" zu antworten: "Alles was die anderen malen". Er drückte damit vortrefflich aus, daß der Künstler, der aus seiner Schau künstlerisch formt, gar nicht objektiv in der Beurteilung dessen sein kann, was andere Künstler neben ihm schaffen.
Wenn es René Clair in zwei Filmen gelungen ist, international künstlerisch geltende Werke zu schaffen, was ich ihm bewundernd bestätige, so ist er, gerade er, nicht befähigt, das was andere tun, um dem Film international künstlerische Geltung zu verschaffen, mit einem Wort und einer Geste abzutun. Kitsch! Wie leicht man sich da irren kann, zeigt das Urteil des Völger-Ausschusses über den Film DIE MILLION.

Lichtbild-Bühne, 18.5.1931


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