Triviale Tropen
Materialien zum 9. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 1996

André Gide über seinen Afrika-Film

Frankfurter Zeitung, zit. nach Film-Kurier, Nr. 164, 11.7.1928


Das Kunstwerk, das ein Film zu sein beansprucht, hat den großen Vorteil, daß es weder der Übersetzung, noch der Vermittlung, noch der Erläuterung bedarf.

Obwohl dieser Film: LE VOYAGE AU CONGO nicht unbedingt meine alleinige Produktion ist, da mein Reisegefährte Marc Allégret ihn gedreht hat, entspricht er doch sehr genau den Intentionen, die meine Bücher diktierten, denn wir verstanden uns ausgezeichnet. Besonders stark sind darin das Fluchtverlangen und die Abenteuerlust ausgeprägt. Ich glaube, daß Sie bei seiner Betrachtung ebenso den Wunsch haben werden, sich zu verlieren und zu vergessen, jenen Wunsch, der mir das größte Geheimnis des Glücks zu sein scheint und der durchaus dem Vorwurf widerspricht, den mir gewisse Kritiker gern machen: ich hätte nie etwas anderes verstanden, als mich selbst zu zeichnen.

Wenn dieser Film von der größten Zahl der Reisefilme, die ich kenne, abweicht, so kommt es, ganz genau gesagt, daher, daß Marc Allégret und ich uns dabei vollständig ausgeschaltet haben. Die meisten Darstellungen fremder Länder gefallen sich darin, uns die Wilden in ihrer Beziehung zu dem Reisenden zu zeigen. Und selbst, wenn dieser gar nicht mehr sichtbar ist, spürt man dauernd seine Gegenwart. Wir hingegen haben versucht, die Eingeborenen, unter denen wir weilten, in ihrer Natürlichkeit zu sehen und zu zeigen; das heißt erst dann, wenn sie, nach einer allmählichen Gewöhnung, ihr Leben durch die Anwesenheit der Weißen nicht mehr gestört fühlten.

Wir stellen uns nicht selbst dar, wir haben nicht danach getrachtet, die Schwierigkeiten und Gefahren unserer Reise hervorzuheben. Sie werden uns weder von Menschenfressern angegriffen sehen, obwohl die Rassen, unter denen wir zehn Monate lebten, im wesentlichen frühere Kannibalenstämme waren, noch von Krokodilen oder Schlangen, noch von reißenden Tieren oder Ameisen. Unsere ständige Sorge war die, den Zuschauer seines Lebens froh werden zu lassen, so wie auch wir des Lebens froh wurden, nachdem wir, soweit wie möglich, unsere Kultur, unsere Zivilisation, alle unsere persönlichen Sorgen abgestreift hatten.

Wir haben uns zu den Eingeborenen aus dem Innern Afrikas verhalten wie ein Romanschriftsteller zu einer Person, die er darstellen will. Ich bin der Ansicht, daß es nicht allein darauf ankommt, seine Gewohnheiten und sein Verhalten zu zeigen, sondern sie verständlich zu machen. Dabei ist es unwichtig, sie zu erklären, man muß sie in das günstigste Licht bringen, in ein Licht, dessen Leuchten ihre Fremdartigkeit fast verwischt, unter dessen Einfluß ihre Gesten uns fast natürlich erscheinen.

Jedes Kunstwerk ist ein Werk der Sympathie, ohne einige Liebe wird man nie dahin kommen, etwas zu verstehen, und erst das, was man versteht, hört auf, uns fremd zu sein.

Wir haben uns also durchaus nicht der einfachen Freude des Staunens hingegeben, die man so oft in den exotischen Filmen empfindet. Dennoch nehme ich etliche bewundernswerte auf (ich denke zumal an CHANG oder MOANA). Nichts betrübt und erregt mich so sehr wie das überaus häufige Bedürfnis, uns von den Eingeborenen mit Vorliebe die mißgestalteten, die besonders grotesken, die abscheulichen vorzuführen. Manchmal fühlt man sich sogar verpflichtet, neben gewissen Häßlichkeiten einige sehr schöne Exemplare der weißen Rasse zu zeigen, damit ihre Überlegenheit zu beweisen. Der Neger dient immer als Relief; er ist da, um Lachen, Spott und Selbstzufriedenheit zu erregen. Und nur aus diesem Grund vergleichen wir unsere Sitten und Gebräuche, unsere Tänze mit den ihren, unsere Raffiniertheit mit ihrer Grobzügigkeit. Dies gefällt einem bestimmten Publikum, das geschmeichelt sein will und Freude daran findet zu sagen: Ich danke dir, mein Gott, daß du mich nicht als Neger hast auf die Welt kommen lassen. An dieses Publikum wendet sich unser Film nicht.

Ich glaube, daß in jeder Rasse, wie in jedem einzelnen Wesen die Anlage zur Schönheit vorhanden ist, die ein aufmerksamer und wohlwollender Blick entdecken kann. Ein Teil der Rassen, die wir auf der Leinwand darstellen, ist sehr rein erhalten. Es versteht sich von selbst, daß wir vorzogen, ihre vollkommensten Vertreter zu wählen, die uns am meisten durch ihre Gesundheit, ihre Kraft und ihren schönen Körperbau auffielen. Ich finde, daß diese Wahl berechtigt war und nichts mit Täuschung zu tun hat. Es kommt hier, wie bei jedem Kunstwerk, darauf an, die wesentlichen Linien aus dem Wirrwarr des Lebens herauszuholen. Die Arbeit des Operateurs besteht in der Vereinfachung. Mir scheint, ihm wird alles gelingen, wenn seine Wahl von dem ausgeprägten Wunsch bestimmt ist, gewisse Arten von Schönheit erreichbarer und sozusagen lesbarer zu machen.

Trotz der hinderlichen großen Hitze und trotz der Transportschwierigkeiten, die die Filmstreifen gefährden und ein sofortiges Entwickeln unmöglich machen, trotz der oft ungenügenden und verschleierten Beleuchtung glaube ich, daß dieser Film in seinen bestgelungenen Teilen den visuellen Eindruck des Landes so stark wiedergegeben hat, wie es ihm kaum in einem anderen, farbigeren Land gelungen wäre. Man erwartet im äquatorischen Afrika sehr zu Unrecht, bei dem intensiveren Licht stärkere Schattierungen, buntes Blattwerk, leuchtendere Blumen, prächtigere Schmetterlinge und Vögel zu finden. Während der Regenzeit folgt wohl auf die Wirbelstürme ein meist sehr klarer Himmel, aber in der trockenen Jahreszeit, die wir größerer Annehmlichkeiten halber bevorzugten, erstickt ein heißer Dunst die schrägen Strahlen, und die Sonne durchdringt diesen grauen Schleier oft erst, wenn sie schon ganz hoch steht. Die Blätter sind von einem tiefen Dunkelgrün, das wie schwarz erscheint. Die meisten Vögel, Schmetterlinge und Insekten sind braun, schwarz oder weiß.

Die dunkle und glanzlose Haut der Eingeborenen tritt durch die Photographie viel weniger heraus, als es zweifellos bei einer weißen Nacktheit geschähe, auf der alle Reflexe spielen. Wenn auch in dem überschwemmten Unterholz die Schatten oft so dicht sind, daß es unmöglich ist, mit der Kamera festzuhalten, wie wunderbar die schwarze Haut der Körper sich in die große Pflanzensymphonie mischt und wie sie mitklingt - die Gestalten unterscheiden sich kaum von den Baumstämmen, und wie im Mythus scheinen sich ihre Glieder in Zweige und Lianen zu verwandeln -, so kann man doch wenigstens bewundern, wie die gereinigten Körper, wenn sie einem Fluß entsteigen, in der grellen Sonne das Aussehen von Bronze oder Jade annehmen, ein Glanz, der einen Augenblick lang dauert, aber sofort von der Hitze getrübt wird.

Viele haben uns den Vorwurf gemacht, daß wir zu wenig Landschaften aufgenommen hätten. Dieser Vorwurf hat mich durchaus nicht erstaunt. Ich glaube, ich hätte ihn als erster ausgesprochen, wäre ich nicht in diesem Land gewesen. Aber man muß wohl zugeben, daß das Land selbst höchstens für den Naturforscher von einem besonderen Interesse ist. Der Maler könnte dort kaum ein anderes Motiv finden als eben den menschlichen Körper. Man wandert Tage und Wochen durch Gebiete äußerster Eintönigkeit, wo, sobald man aus dem erstickenden Wald herauskommt, eine ungeheure, mit sehr hohen Gräsern bewachsene Sandfläche sich ausdehnt, die jeden freien Ausblick unmöglich macht. Riesenhafte Bäume sind auf dieser Steppe verstreut, aber das Auge kann ihre Höhe nicht ermessen, da keine Vergleichspunkte vorhanden sind und da in diesem unbegrenzten Land alles ungeheuerlich ist. Wirklich, wer nach dem Kongo reiste, um herrliche Landschaften zu finden, wäre enttäuscht.

Der Tschad-See, dessen Ausdehnung das Auge nicht umfassen kann, ist in seinen Einzelheiten nicht schöner als die Sümpfe und Teiche in der Umgebung von Cette und ohne Zweifel als viele andere, die ich zwar nicht gesehen habe, mir aber vorstellen kann. Selbst der Urwald, wenigstens auf der Strecke, die wir durchquerten, hat mich, offengestanden, einigermaßen enttäuscht. Viele Reisende haben mir erzählt, daß dieser große äquatoriale Wald Afrikas den Vergleich mit den Wäldern Brasiliens oder den Sundainseln nicht aushalte; ich nehme es gerne hin. Was macht aber dieses Land so anziehend? Wie kommt es, daß ich mich trotz allem beglückwünsche, es gewählt zu haben, daß es mir sogar den quälenden Wunsch hinterläßt, dahin zurückzukehren, es vielleicht allen anderen Ländern, seien sie noch so weit, vorzuziehen? Es ist das tiefe Interesse, das diese primitiven Menschenrassen erwecken, die noch so wenig mit uns in Berührung gekommen sind, diese nackten Rassen, die sich nicht schämen, es zu sein.

Für den Psychologen sind die primitiven Völker noch von einem anderen Interesse. Durch sie lernt der zivilisierte Mensch sich selbst besser kennen. Um sich richtig zu kennen, um sich klar zu sehen, muß man sich zunächst verlassen. Jeder von uns versteht sein Vaterland am besten, wenn er es aus der Fremde betrachtet. Mitten in der afrikanischen Wildnis erkenne ich besser die europäische Zivilisation, deren jeder von uns teilhaftig ist und an der wir alle arbeiten.

Einer der eigentümlichsten, für unser europäisch zivilisiertes Gehirn am wenigsten faßbaren Züge ist die völlige Unfähigkeit der Eingeborenen Zentral-Afrikas und im allgemeinen aller Völker, die im Urzustand geblieben sind, sich als Einzelne von ihren Klans, Stämmen oder Rassen zu trennen. Keiner sagt »Ich«, sondern »Wir«. So merkwürdig uns das vorkommt, er wird sich nie als eine unterschiedene Persönlichkeit betrachten oder von sich in der ersten Person sprechen. Er glaubt weder an seine Geburt noch an seinen Tod. Er fängt nicht an und hört nicht auf zu sein, er vermengt sich. Er zwingt uns zu begreifen, daß das Individuum nur ein langsamer Sieg über das Formlose und Unterschiedslose war.

Nichts ist geeigneter, die Menschen zur Anerkennung der Kultur zu bringen, als ein Untertauchen in der Wildheit, nicht ist geeigneter, sie zu Individualisten zu machen, als das Untergehen in der Gesamtheit. Keine Zivilisation ist möglich ohne Unterscheidung. Individuen, Völker und Nationen müssen unterschieden werden.

Heute, wo der Begriff des Individuums nahe daran ist, unterzugehen, sich aufzulösen, ist es umso interessanter festzustellen und zu begreifen, daß er die erste Schöpfung, die Erfindung der Zivilisation ist. Die Rückkehr zur Barbarei ist rasch vollzogen. Es ist nicht nötig, nach dem Kongo zu reisen, um den Barbaren zu finden. Er schläft in jedem von uns, mehr oder weniger gezähmt, mehr oder weniger vergraben in den Ablagerungen, die die Kultur allmählich angeschwemmt hat.

Es ist unendlich interessant, ihn im Urzustand wiederzufinden, in dem er besser geeignet ist, uns über seine oft noch ungeahnten Hilfsquellen zu unterrichten.


Nächster Artikel; Zurück zum Inhalt