CinErotikon. Materialien zum 12. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 4. - 7. November 1999.

Die Läuterung des Filmgeschmacks

Dr. Edgard Dreher

in: Film-Kurier, Nr. 23, 2.7.1919.


Die Erkenntnis, daß die Sexualfilme sobald wie möglich von der »Bildfläche« verschwinden müssen, ist heute Gemeingut aller derjenigen, die an diesen Filmen nichts verdienen. Und da das die übergroße Mehrheit ist, so wird ihrem Willen irgendwie Geltung verschafft werden müssen. Fragt sich nur, wie?
Die Zensur zurückrufen, heißt den Teufel durch Beelzebub austreiben. Aber vielleicht ist manchem Beelzebub immer noch lieber als diese ewigen kleinen Teufeleien der ungezählten Aufklärungsfilme. Das wäre verzeihlich. Unverzeihlich ist bloß der logische Fehler, der darin liegt, die Zensur gegen ein Übel anwenden zu wollen, das durch die Zensur hervorgerufen ist.

Denn nicht die Aufhebung der Zensur ist die Ursache der gegenwärtigen Sexualisierung des Films, sondern vielmehr die Zensur selbst. Wäre es unter der alten Zensur möglich gewesen, sexuelle Probleme im Rahmen großer künstlerischer Ideen zu behandeln und dadurch dem Gestaltungswillen des Künstlers eine weniger eng bemessene Grenze zu setzen, so würde die Aufhebung der Zensur überhaupt keinen Einfluß auf die Wahl der Filmvorwürfe gehabt haben. Warum zeigen sich die gleichen Erscheinungen wie beim Film denn nicht in der Literatur? Weil die Literatur in sexueller Beziehung immer ein sehr viel größeres Maß von Freiheit genossen hat als der Film.

Wir haben es mit nichts anderem zu tun als der jedem einsichtigen Pädagogen bekannten Erscheinung, daß übermäßig streng erzogene Kinder zügellos werden, sobald man ihnen die Freiheit läßt, während freiheitlicher erzogene den Übergang von der Kinderstube zur Selbstverantwortlichkeit ohne Erschütterungen durchmachen.

Der Aufklärungsfimmel ist weiter nichts als eine Kinderkrankheit der Filmindustrie, die wie andere Krankheiten auch geheilt werden kann und geheilt werden wird. Und zwar bieten sich dazu zwei Wege: entweder man überläßt es dem Körper aus sich heraus die Schutz- und Abwehrstoffe gegen die Krankheit selbst zu bilden oder man unterstützt den Heilungsprozeß durch Einwirkungen von außen. Unter allen Umständen muß aber die Krankheit in ihren Ursachen erfaßt werden, und man darf sich nicht damit begnügen, ihre Auswirkungen zu unterdrücken, wie es durch eine Wiedereinführung der Zensur geschehen würde. Denn das wäre gleichbedeutend mit einer Verewigung des vornovemberlichen Bevormundungssystems, mit dem wir doch glücklicherweise gebrochen haben.

Es fragt sich also, was geschehen wird, wenn man die Dinge auf sich beruhen läßt. Dann wird voraussichtlich sehr schnell der Zeitpunkt eintreten, an dem das Publikum genügend »aufgeklärt« ist und sich an den Sexualfilmen sattgesehen hat. Denn kein Reiz verblaßt schneller als der Reiz erotischer Bilder. Und die wenigen nervenschwachen Kümmerlinge, denen solche Filme als dauernder Liebesersatz willkommen sein mögen, reichen nicht aus, um die Herstellungskosten zu decken. Sind doch zweifellos die großen Kassenerfolge auch heute schon zum größten Teil gar nicht auf die Sucht nach erotischen Sensationen zurückzuführen als vielmehr auf das Vergnügen etwas zu sehen, was gestern noch zu zeigen verboten war.

Zugegeben aber, daß die Selbstheilung möglicherweise mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, als im Interesse der öffentlichen Reinlichkeit und vor allen Dingen auch im Interesse des Auslandsurteils über die Moral unseres Volkes (notabene ein Wirtschaftsfaktor von nicht zu unterschätzender Tragweite) erwünscht wäre. Hier gilt es also, den Heilungsprozeß nach Möglichkeit zu beschleunigen.
Ein sicheres Mittel, den Sexualfilm zum Verschwinden zu bringen und doch die staatliche Zensur zu vermeiden, läge in der Hand der Fachpresse als berufenste Hüterin der Kinointeressen. Ein nicht angekündigter und nicht anzukündigender Film existiert nicht. Wenn sich also die gesamte Fachpresse vereinigen würde - vielleicht wäre der im März dieses Jahres gegründete Filmpresseverband hierfür der geeignete Mittler -, von den Fabrikanten als Voraussetzung für die Aufnahme ihrer Anzeigen eine Zensurierung der Filmszenarien, oder, soweit diese noch nicht vorhanden sind, wenigstens der Filmtitel durch den Fabrikantenverband zu verlangen, so wäre dem Übel mit einem Schlage abgeholfen. Gewinn entgeht der Fachpresse dadurch nicht, wenn die Maßnahme rechtzeitig vorher angekündigt wird, da die Sexualfabrikanten in diesem Falle genötigt sein würden, Filme herzustellen und anzukündigen, die die Billigung des Verbandes finden können.

Ein anderes Mittel, die Beseitigung des sexuellen Aufklärungsfilms zu beschleunigen, könnte es sein, wenn man jede derartige Aufklärungsabsicht in öffentlicher Kritik gründlich an den Pranger stellt, die ernsthaftesten Absichten in erster Linie. Dem Autor, der trotzdem Sexualfilme schreiben will, bliebe dann nichts weiter übrig als einzugestehen, daß es ihm nur auf Erregung der Sinnlichkeit ankommt (und das wird er aus Gründen der Reputation nicht gern wollen) oder aber etwas künstlerisch so Hochwertiges zu schaffen, daß es einer Aufklärungsabsicht zur Rechtfertigung gar nicht bedarf.


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