CinErotikon. Materialien zum 12. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 4. - 7. November 1999.
Kinozensur
Emil Lind
in: Freie Deutsche Bühne, 1. Jg., Nr. 9, 26.10.1919
Langsam aber sicher kommen sie wieder, alle die Ketten und Webschnüre der vergangenen Zeit. Gerufen oder gehemmt, keck oder schüchtern, aber immer mit Zähigkeit. Nach dem Prinzip jenes Geschäftsreisenden, der von hinten wieder zur Türe eintritt, nachdem man ihm vorne hinausgeworfen. Die Rückwärtser, die, pervertierte Nornen, eifrig die alten Fäden knüpfen, blicken mit dem einen Auge verächtlich auf diese Methode und blinzeln ihr mit dem andern verständnisinnig zu. Einer dieser Fäden heißt: die Zensur. Dieses Musterbild falscher Einstellung, diese tragikomische Kronzeugen pedantischer Tyrannei steckt ihr Näschen in die aus verstaubtester Gegend kommende Windströmung und schnuppert Morgenluft. Das Übermaß ihres Zeigefingers schiebt sich vorerst wie ein dürrer, kahler Stengel durch den Schlitz des Kinovorhangs. Doch wer weiß, ist einmal der Anfang gemacht... Wie viele Einrichtungen leben nur, weil »man an andrer Stelle mit ihnen gute Erfahrungen gemacht hat«. Beispiele wirken nach. Zwar hat die Schaubühne die Probe auf das Exempel »Freiheit« bis jetzt günstig bestanden. Sie hat gezeigt, daß ihr geistiges oder künstlerisches Niveau ihre Sittlichkeit verbürgt. Selbst dort, wo jenes fehlt, zeigte sich selten ein über den Strang schlagen oder blieb des geringen Wirkungskreises wegen belanglos. Dies stellt der Innenkultur der deutschen Bühnen ein schönes Zeugnis aus und sollte sie für immer vor geistiger Bevormundung des Staates schützen. Und dennoch - nicht vergessen darf man, wie oft die Zensur gegen tiefsittliche Kunst und Künstler den Geist der Lex Heinze schwang, während daneben, von ihr unbelästigt, sich neckische Frauenhöschen und seidene Herrenbeinkleider Rendezvous' gaben. Gegen versteckte oder verkitschte Sinnlichkeit war man immer duldsam, gegen offene freie Menschlichkeiten immer mobil. Nicht nur die Kirche, auch eines ihrer widerlichsten, entartetsten Kinder: die Muckerei hat einen guten Magen, man muß beizeiten verhindern, daß sie mit dem einen Happen gleich den andern schnappt.
Anlaß gab und gibt diesmal in der Tat eine erhebliche Skrupellosigkeit: schamlose Filmbilder. Wer weiß nicht, daß obscöne Ansichtskarten reißenden Absatz finden? Gegen diese rief man nicht nach der Zensur, für die genügte der Staatsanwalt. Ich denke, daß auch gegen die vergrößerten Ansichtskarten diese Instanz genügen wird.
Es war schon oft davon die Rede, daß die Interessenten aus ihrem eigenen Kreise heraus eine entscheidende Begutachtungsstelle schaffen wollen, doch scheint man in die gegenseitige Objektivität nicht viel Vertrauen zu setzen. Die Gelegenheit wäre auch zu verlockend, statt nach dem Geschmack, nach der Konkurrenzfähigkeit zu urteilen. Mit Zensurbeiräten (Beamte und von diesen berufene Laien) hat man auch nicht die besten Erfahrungen gemacht: die schleimige Plattheit hatte da Oberwasser. Und doch wäre hier ein Weg, nur müßten die Beamten ausgeschaltet werden und die Laien wirkliche Künstler sein. Schauspieler, Schriftsteller, Maler, Bildhauer und aufgeklärte Schulmänner. Keiner von ihnen dürfte mit dem Film in irgend einer geschäftlichen Beziehung stehen. Ihre Wahl ginge von den beiden Filmorganisationen (Arbeitgeber und -nehmer) aus, mit Unterstützung der entsprechenden anderen und wäre geheim vorzunehmen. Man käme so vielleicht nicht nur zu einer Ausmerzung angewandter Schweinerei, sondern auch zu einer allgemeinen Hebung des Geschmacks, da unwillkürlich mehr ästhetische Gesichtspunkte zur Geltung kämen. Am besten wäre ja, die Dinge frei laufen zu lassen, sie würden sich so am schnellsten zu Tode rennen. Hat man aber zu diesem Wege der Selbstzucht kein Vertrauen, dann muß die Erziehungsinstanz freiheitlich und unabhängig sein.
Mit dem alten ewigen Rechte des Danebengreifens in allen Kunst- und Geschmacksfragen schlägt die kochende Reichsspießerseele auch in Filmdingen die falschen Tasten. Gegen die wenigen »Aufklärungsfilme«, die doch noch eine moralisierende, wenn auch für halbwegs Zeitgemäße selbstverständliche Tendenz tragen, die mehr Limonade als Absinth verschleißen, läuft man Sturm und solche, die Naben und Umgebung nur zum Zwecke des Anreißens zeigen, rollen ungehindert ab. Die Kinos sind ja dunkel, da schämt man sich nicht vor einander. (Man denke sich ein Theater mit isolierten Zellen für die Zuschauer)
Ein wirksames Reinigungsmittel wäre die in diesen Blättern bereits geforderte Konzession, die nur nach sorgfältiger Prüfung erteilt werden dürfte und im Falle eines Fehlgriffs nach Verwarnung entzogen werden müßte. Dadurch würde man auch die künstlerischen Elemente des Films stärken, von denen es jetzt schon eine ganze Anzahl gibt. Dadurch würde man auch manchen Regisseur vor der Prostitution bewahren und den Mehl- oder auch Spirituosenschieber allmählich ausschalten, der, schon um der Steuerabgabe zu entgehen, einige Zehntausende in Jauche anlegt und zugleich - denn edel sei der Mensch, hilfreich und gut - seine Freundin mit Hilfe ihrer unbedeckten Beine und eines vom Regisseur mühselig beigebrachten Augenaufschlags (den gleichen für Liebe, Schmerz, Lust, Rache usw.) zum Star macht.
Keine Zensur! Heute ruft man sie gegen den Schund auf (wie steht es übrigens mit dem Kriegsschund?!), morgen würde man sie gegen die mißliebige Tendenz, gegen die Aufklärung und politische Erziehung anwenden. Und so hätte man schon im Mutterleib den Keim getötet, der bei dem ungeheuren Konsum und der suggestiven Kraft der mühelos empfangenen Eindrücke sich zu einem der gewaltigsten, Zivilisation und Kultur fördernden Mittel entwickeln ließe. Der Film dem Künstler, und nicht dem Konfektionär dividiert durch den Beamten.
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