Reihe CineGraph Buch
Wolfgang Jacobsen, Heike Klapdor: Merhameh. Karl Mays schöne Spionin. Ein Dialog über die Autorin Marie Luise Droop
In: Jörg Schöning (Hg.): Triviale Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland 1919 - 1939
Recherche 4: Aufbruch oder Winnetou reitet
A: "Wir gingen schlafen. Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. Ich sann auf Hilfe. Ich rang nach einem Entschluß. Das Buch, in dem ich gelesen hatte, führte den Titel: ,Die Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller Bedrängten.' Als Vater nach Hause gekommen und dann eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett, schlich mich aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich einen Zettel: ,Ihr sollt Euch nicht die Hände blutig arbeiten, ich gehe nach Spanien; ich hole Hilfe.'" 33
B: Aufblende. Karl Mays "Leben und Streben". Erzählen. Träumen. Sich fortspinnen.
A: "Diesen Zettel legte ich auf den Tisch, steckte ein Stückchen trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, öffnete die Tür, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf, aber leise, leise, damit ja niemand es höre, und ging dann gedämpften Schritts den Marktplatz hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der über Lichtenstein und Zwickau führt, nach Spanien zu, dem Land der edlen Räuber, der Helfer aus der Not." 34
B: Im Morgennebel liegt sein Weg vor ihm.
A: Der Weg von Dresden in die ferne Fremde ist nicht weit. Im Gegenteil. Der Orient liegt vor der Haustür. Das Gebäude der Zigarettenfabrik "Yenidze" ahmt eine maurische Moschee nach. In Altendresden steht ein "japanisch" oder "indianisch" genanntes Palais. Außerhalb der Stadt gesellt sich elegant Schloß Pillnitz der Elbe zu und legt sich schlank an ihr Ufer. Beide sprechen eine asiatische Architektursprache: geschwungene Mansardendächer nach dem Vorbild des pekinger Kaiserpalastes, ostasiatisch anmutende Vertäfelungen und Malereien, Chinesenhermen in den Gärten. Zur Morgengabe für die Mätresse, die Gräfin Cosel, fuhr der sächsische Sonnenkönig August der Starke mit der Gondel von Dresden und legte an der venezianischen doppelläufigen Treppe am Ufer an. Die feudale Architektur des barocken 18. Jahrunderts zeigt die Faszination für Indien, China, Japan. Poetisch liegt sie alltäglich in den Augen. Mehr noch, sie läßt es fast 200 Jahre später als etwas ganz Vertrautes erscheinen, was die Fürsten des beginnenden 18. Jahrhunderts taten: die Ferne in die Nähe zu holen, das Fremde zum eigenen zu machen, das Exotische zur Heimat. Karl Mays exotische Topografie ist ihre kleinbürgerliche Variation.
B: "Als Schulmädchen mußte ich jeden Morgen die Straßenbahn benutzen, deren Schienenweg das schönste Villenviertel der Stadt mit ihren Hafenanlagen verband. Hier wohnten Männer, die es fast alle aus kleinen Anfängen zu großem Vermögen und entsprechenden Stellungen gebracht hatten: Fabrikbesitzer, Bankdirektoren, Reeder, Werftleiter und hohe Beamte. Nicht alle hatten Wagen und Pferde, und die meisten zogen die Straßenbahn vor. Mit meiner Schulmappe saß ich mitten unter ihnen, wohlgelitten, und lauschte auf ihre Gespräche (...). Jedes Wort schien von der Freude am Fortschritt und dem Glauben an eine herrliche Zukunft geprägt. Noch heute weiß ich genau, welche kindlichen Vorstellungen mehr und mehr meine Seele erfüllten. Wir werden den Tod besiegen, dachte ich triumphierend. Bis meine Eltern alt geworden sind, stirbt keiner mehr. Bis dahin haben die Ärzte Mittel und Wege gegen alles gefunden und wir werden nie getrennt werden. Ein Glück durchrauschte mich, eine Seligkeit, an die ich mich noch heute erinnern kann." 35
A: Aufbruch im Rückblick. Marie Luise Droop: Der Mensch ist blind. Aber das führt ihn nicht unbedingt zur Erkenntnis. Auch auf Gedankenreisen aus der Isolation. Das Kind Karl May war vier Jahre lang blind. Eben.
B: "Sieh', die Sonne wirft die letzten Strahlen / durch das dunkle Laub der hohen Bäume, / wo es flüstert wie geheimnisvolle Träume / in die Dämmerung, was eines Tages hier gescheh'n.
Ringsherum herrscht vollends Schweigen. / Nur aus weiter Ferne dringt ein leises Rauschen. / Wo Trauereschen sich herniederneigen, / sprudelt silberhell ein kleines Flüßchen.
Einsam der Duft aus Tann und hohen Eichen / um ein Grab, das längst verfallen. / Doch nie wird der Klang verhallen / deines Namens. Des Kreuzes heil'ges Zeichen / steht noch fest und noch nicht wankend, - / wenn dein Stamm auch längst vergessen ist.
Wilde, immergrüne Efeuranken / hüllen das Höhenwandeln des Ustad ein. / Leise kommt die Nacht. Und Mondenschein / zittert auf den kleinen Wellen. / Sie verrinnen und zerschellen.
Blumen blühen und verweh'n, / Zeiten kommen und vergeh'n. Ewig ist hier nichts auf Erden, / doch Du sollst unsterblich werden: / Unter hohen Bäumen schlafen in süßer Ruh, / bis dich Christus erweckt, Winnetou!" 36
A: Als Marie Luise Droop im Sommer 1903 dieses Gedicht, "Phantasie am Grabe Winnetous", schrieb und es am 26. September des Jahres an Karl May schickte, war sie dreizehn Jahre alt. Eine Leseratte, die alle "Winnetou"-Bände verschlungen hatte, ein Backfisch.
B: "Winnetou war meine erste Liebe." 37
A: Und bleibt es. Wenn wir alle seine Wiedergänger bedenken und in der Mitte ihn. Bis daß der Tod Euch scheidet. Fast ein Motto für die Obsession dieser Schriftstellerin, die Dichterin sein wollte, begabt und gebildet, und schreibende Epigonin blieb, befangen und verbildet.
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