Reihe CineGraph Buch
Wolfgang Jacobsen, Heike Klapdor: Merhameh. Karl Mays schöne Spionin. Ein Dialog über die Autorin Marie Luise Droop
In: Jörg Schöning (Hg.): Triviale Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland 1919 - 1939
Recherche 5: Biografische Spuren. Merhamehs Alltag
A: Marie Martha Luise Fritsch wird am 15. Januar 1890 in Stettin geboren, Tochter von Karl Georg Fritsch, Direktor der Stettin-Bredower Zementfabriken, und seiner Frau Emmeline Albertine Elisabeth Conradine Most, die einer wohlhabenden Schokolodenfabrikanten-Familie entstammt. Sie besucht die Höhere Töchter-Schule, begeistert sich für die Romane Karl Mays, gründet einen Verein, "Gloria Carolus magnus", der den Ruhm des Schriftstellers mehren soll, beginnt eine Korrespondenz mit May, die dieser freundlich mahnend erwidert, geht nach dem Schulabschluß 1906 für ein Jahr an die Anglo-Continental-School in Folkstone in England und nach Brüssel an die dortige Kunstakademie. 1907 kehrt sie nach Deutschland zurück und beginnt bei Dr. Erwin Ackerknecht, zu der Zeit Direktor der Stettiner Stadtbücherei, eine Bibliothekarinnen-Ausbildung. 1950 nimmt sie den Kontakt mit ihrem Lehrer wieder auf, nachdem sie - in Berlin ausgebombt und nach dem Krieg in Seelbach im Schwarzwald in ärmlichen Verhältnissen lebend - durch einen Bekannten erfahren hat, daß es auch Ackerknecht nach Süddeutschland verschlagen hat. Am 14. Dezember 1950 schreibt sie:
B: "Mein lieber und unvergeßlicher Lehrer, sehr geehrter Herr Dr. Ackerknecht! (...) Ich weiß gar nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern. Ich bestand 1910 bei Ihnen in Stettin das Bibliothekarinnenexamen, und noch kann ich mich an Ihre herrlichen religionswissenschaftlichen Vorträge und an Ihre geistvollen Einführungen in die deutsche Literatur entsinnen. (...) Mein guter Vater (...) hat noch lange bei Ihnen gelesen, und meine gute bibliothekarische Ausbildung und mein sprachliches Wissen (ich beherrsche sieben Sprachen gut und eine achte, türkisch, etwas) hat es mir ermöglicht, die Preußische Staatsbibliothek in einer Weise auszuschöpfen, wie es wohl wenigen vergönnt ist. Von 1910 bis 1943 war ich fast ununterbrochen eine ihrer eifrigsten Leserinnen, und ihre Vernichtung habe ich bisher noch nicht verwinden können. (...) Und so neigt sich all mein Erinnern der Vergangenheit mit wachsendem Dank zu. Es ist das allerletzte an Freude, was uns armen Entwurzelten blieb. Und so also kehre ich zu Ihnen zurück, mein lieber verehrter Herr Dr. Ackerknecht. Gott schenke Ihnen noch schöne Tage des Schaffensglücks und lange Jahre, die sie wirklich in den Genuß des Friedens setzen." 38
A: Die Beziehung Marie Luise Droops zu ihrem Lehrer - Ackerknecht wurde bekannt als einer der Initiatoren der Lichtspielreform und später als Direktor des Schiller-Museums in Marbach - zeigt die gleichen schwärmerischen Züge, die sie auch mit Karl May verband.
B: "Lieber hochverehrter Herr Doktor! Ich muß immer an die Schneeglöckchen denken. Die stehen im Schnee und träumen vom Frühling und erfrieren im Schnee und haben ihn nie gesehen ..." 39
A: Naiv, religiös erzogen, ist das männliche Vorbild Ziel mädchenhafter Sehnsüchte. Und Marie Luise Droops literarische Texte feiern Adoration, geistige Abhängigkeit und Unterwerfung:
B: "Nicht daß der Zauber einer fremden Welt ihn (den Maharadscha) umspielte, nicht daß er hoch und schlank und schön war wie keiner sonst, hatte sie in ihrem Ich entwurzelt - aber daß sein Pferd aufjauchzte unter der Berührung seiner Hand, das war es, was ihre Seele blendete." 40
A: Der Maharadscha des Filmromans von 1918, der hier am Strand von Scheveningen in das Leben einer jungen Europäerin tritt, preist die
B: "Seligkeit (...), die darin liegt, daß du in Gehorsam dich beugen und in Demut mein eigen sein sollst. 41 (...) Es gibt keinen Weg zur Vollendung für Dich als den des Gehorsams." 42
A: " ,Für den Gedanken einer solchen Liebe habe ich gelebt', sagte sie, und ihre Stimme schwankte nicht." 43
B: Marie Luise Droops Filmroman hat eine Heldin mit einem sprechenden Namen - Engelen von Pylswert. Das Abenteuer des edlen Engels, der sich von einem indischen Fürsten entführen läßt, ist stilistisch kaum erträglich, bedient sich am Klischee von Tapetenbildern eines nippesdekorierten Orients und ist dennoch interessant, denn die Geschichte behauptet die absolute Macht der Imagination: Die Unvereinbarkeit von Wirklichkeit und Fantasie wird in der fiktionalen Erfüllung aufgehoben. Was dem Reiseschriftsteller und der Filmautorin verwehrt bleiben wird, was auch Karl Mays Helden immer entbehren, erfüllt sich für die junge deutsche Heldin und den indischen Fürsten. Der Antagonismus von West und Ost, von Nähe und Ferne wird aufgehoben in der Integration von Vertrautem und Fremdem. Das Exotische wird als das eigene anverwandelt, weil es dem Wesen entspricht.
A: "Engelen hatte Ideale, die weit ab von allem Gewöhnlichen lagen. (...) (Ihre) Seele war ein buntes Märchen, gewoben aus unzähligen Phantasien und der leidenschaftlichen Sehnsucht, diese Phantasien nicht nur zu träumen, sondern sie auch zu erleben. 44 (...) Die harte Berührung mit der Wirklichkeit würde ihr Phantasiegebilde zerstören, und das mußte sie retten." 45
B: Als sie dem "bildschönen griechischen Gott," 46 "elegant, vornehm und fremdartig", 47 in die Arme sinkt,
A: "(fühlte sie) alles, was an ihr persönlich und individuell gewesen war, entgleiten. Sie war nur noch ein Spiegel, in dem berauschend stark und berauschend schön der Abglanz seines Wesens lag und der keinen Zweck mehr hatte in sich selbst, sondern nur noch in ihm. Es war wie ein Verbluten ihres Ichs." 48
B "Bekanntlich reimt sich Exotik auf Erotik." 49 "Gedankengänge und Scenen, die meist im Film zwischen den Zeilen liegen", merkt der Darsteller des Maharadschas, der Schauspieler Gunnar Tolnæs höflich, aber nicht weniger verwirrend an. 50
A: Gilt für Marie Luise Droop auch der Satz Ernst Blochs: "Jede Reise muß freiwillig sein, um zu vergnügen"? 51
B: "Zur Schriftstellerei bin ich auf die natürlichste Art der Welt gekommen. In meiner Familie schreiben nämlich alle Frauen. (...) Ich schrieb, von Lenau inspiriert, in der Religionsstunde lyrische Gedichte. (...) Mit vierzehn Jahren ging ich zum Roman über. Ich wählte die briefliche Form und erschien als junger Mann von Welt, der im Orient Liebesabenteuer erlebte. In dieser Zeit geriet ich in die Netze der Politik. Ich las sämtliche Reichstagsreden, schwärmte für den Fürsten Bülow und verfaßte eine Rede über die ,soziale Frage', die bei Buddha begann und bei Bebel endete. (...) Ganz heimlich hoffte ich auf die Erfüllung meiner heißen politischen Träume. Doch von diesen sollte keiner sich erfüllen, vielmehr brachte mich die Liebe zu einem noch in der Berufsausbildung befindlichen Manne zum Film. Wirtschaftliche Gründe, bis dahin als unkünstlerisch verachtet, drückten meinem ganzen Schaffen von nun ab den Stempel auf. Doch wenn ich schreiben könnte, was ich wollte, wenn sich der wirtschaftliche Zwang wie ein Wunder von mir löste, wenn ich Zeit hätte und Geld, viel Geld, so schriebe ich ein großes historisch-kritisches Werk (...). Es würde mich von der schmerzlich gefühlten Last erlösen, daß ich bisher nur zur Unterhaltung der Menschen existiert habe." 52
A: Schreiben aus wirtschaftlichem Zwang. Fantasieproduktion zum Broterwerb. Verkanntes Talent. Ein Frauenschicksal hinter fremden Bildern? Aufgefangen von einer jungen Industrie: Film. Die Konkurrentinnen heißen zum Beispiel Jane Beß, Liddy Hegewald, Hanna Henning und natürlich Thea von Harbou. Unter dem Pflaster der boomenden berliner Friedrichstraße liegt der Wüstensand.
B: "Karl May hatte mir sein ganzes Vertrauen geschenkt. Und ich selbst habe mich hineingestürzt in seine Tragödie und kann heute alles viel besser sehen und beurteilen als damals. Eines Morgens - in der Nacht war er gekommen, ganz leise, was ich nicht gehört hatte, in mein Fremdenzimmer in der Villa Shatterhand - lag auf meinem Tisch sein neuestes Werk: ein zweibändiges ,Ardistan und Dschinnistan'. Und da war ein Zettel. Auf diesen hatte er geschrieben:
A: ,Merhameh, das bist Du! In der Gestalt habe ich Dich gesehen und erlebt, von dem ersten Tag (an), als ich Dich kannte.'" 53
B: Und in der Erzählung "Merhameh" heißt es:
A: "Sie war jung und schön, und zwar von einer so edlen, reinen, keuschen, ich möchte sagen heiligen Schönheit, daß sie gar kein Wort zu sagen, sondern nur das Auge aufzuschlagen brauchte, um alles, was nicht lauter, klar und sauber war, von sich zu weisen. (...) ,Merhameh, die Barmherzige?' fragte er, indem sein Auge leuchtete und sein Gesicht einen anderen Ausdruck annahm. ,Sie, sie, die in den Herzen aller Menschen und in den Versen der Dichter lebt? (...) Wen Merhameh beschützt, den zwingt kein Mensch zur Flucht.'" 54
B: "Mit einer tiefen Andacht habe ich das Buch gelesen. Und mein ganzes Fühlen und Denken gegenüber Karl May war dann beseelt nur von dem einen Gedanken, wirklich für ihn die Barmherzige zu sein." 55
A: ,Merhameh' übersetzt Mays Erzählung "Des Kindes Ruf" ins Englische,
B: "The Call of the Child",
A: tritt 1910 in ein wissenschaftliches Antiquariat ein,
B: "wo meine Aufgabe darin bestand, die Luther-Bibliothek in Wittenberg zu katalogisieren." 56
A: Als Leiterin der Werbeabteilung der Büromöbelfabrik Glogowski & Co. in Berlin-Wedding reüssiert sie erfolgreich, betreut auch die Alleinvertretung für Remington-Schreib- und Burroughs-Additionsmaschinen für Europa. Das Schreiben ist ihr immer ein Anliegen.
B: "Durch meine Tätigkeit gewann ich Eingang bei Rudolf Mosse, der meinen Aufsatz ,Heinrich Heine und sein Volk' im Berliner Tageblatt als Leitartikel brachte." 57
A: Es folgen Eintritt in den Ullstein-Verlag als Redakteurin der Frauenzeitschriften, Leiterin des Archivs, dann als Lektorin. 1910 lernt sie den Studienrat Dr. Adolf Droop kennen, jenen Karl May-Forscher, der 1909 ein Buch über sein Idol veröffentlicht hatte: "Karl May. Eine Analyse seiner Reiseerzählungen". Vehement engagiert sie sich für May im Lebius-Prozeß, in dem sich der Schriftsteller gegen verleumderische Behauptungen zur Wehr setzen muß. Noch unter ihrem Mädchennamen spielt sie Detektivin, entlarvt den Hauptbelastungszeugen, den angeblichen Indianerhäuptling Brant Sero, als gekauften, ganz gewöhnlichen Rixdorfer, aktiviert Freunde und Verehrer des Schriftstellers, die "Leibgarde der Dschamikun", darunter Hermann Sudermann, Herwarth Walden, Maximilian Harden.
B: Oh ja, auch die ,Neue Sachlichkeit' und die Linke haben ein ausgeprägtes Faible für die Prärie. George Grosz malt 1916 seinen Traum von Amerika und gibt ihm den Titel "Wildwest". Er baut auf seinem Grundstück im berliner Südwesten eine Ranch, trägt Cowboy-Kleidung, trinkt Bourbon und liest Karl May. Carl Zuckmayer schreibt mit "Kiktaha oder Die Hinterwäldler" 1925 "Ein Stück aus dem fernen Westen" und nennt seine 1926 geborene Tochter "aus einer etwas infantilen Laune" Winnetou. Ernst Bloch und er "examinierten einander auf Spazierwegen mit detaillierten Fangfragen über die Verwandtschaftsverhältnisse der weniger bekannten Gestalten aus dem wilden Kurdistan oder der Umgebung des Llano Estaccado ... 58
A: Wie hieß die Cousine des Schut?
B: ? - Hat gar keine!
A: ... und der Philosoph wird den Freund und Emigranten noch 1943 in einem Brief grüßen mit "nicht nur in der Liebe zu Karl May geeint".
B: Die Presse nennt Marie Luise Droop ob ihres Engagements in dem Prozeß "Karl Mays schöne Spionin". May wird zwar rehabilitiert, doch der Prozeß hat seine Kraft gekostet. Er stirbt am 30. März 1912.
A: "Immer wieder sah ich auf die kleine, zierliche, greise Schriftstellerhand aus rosa Glacé", schreibt George Grosz. "In seinen Wunschträumen trieben doch diese weißen Knöchel einen Zimmermannsnagel mit einem Hieb durch ein vierzölliges Eichenbrett! Etwas Kühles, leicht Frierendes war auch um ihn, gewissermaßen als stünde er immer im Winde und fröre ..." 59
B: "Dieser Prozeß gehört, wie der Judenhaß und der Nationalsozialismus, mit zum wichtigsten Bestandteil der deutschen Tragödie", 60
A: gibt sie in den 50er Jahren in einem Interview zu Protokoll. Sechs Monate nach Mays Tod heiratet sie am 7. Oktober 1912 Adolf Droop. Zur Hochzeit schenkt er ihr ein Buch mit eigenen Gedichten. Titel: "Merhameh". Als erste gemeinsame Aufgabe übernehmen beide die Leitung der berliner Karl-May-Vereinigung.
B: "Bald darauf trat ich in Beziehung zum Film, dessen große Zukunft ich erkannte." 61
A: Die Droops werden Redakteure der von Hermann Lemke herausgegebenen Kinoreform-Zeitschriften "Die Lichtbildkunst" und "Die Lichtbildschule". Sie übernimmt zusätzlich die Schriftleitung der Beilage "Volk und Film". Ab 1915, ihr Mann ist zum Kriegsdienst eingezogen, geht sie als Dramaturgin zur Nordisk Films Kompagni in Kopenhagen, schreibt Zwischentitel, bearbeitet Drehbücher, redigiert die Firmenzeitschrift "Der Eisbär". Dänemark wird ihr eine zweite Heimat, der skandinavische Star Gunnar Tolnæs ein Freund und neues Idol, Merhameh zur Lieblingsfrau des Maharadscha.
B: "Wer Karl May persönlich kennt ...", 62
A: "ein kleiner, feiner, hochzugeknöpfter Herr mit weißem Schnurrbart, mit der napoleonischen Fliege unter dem Kinn und dem etwas gewellten langen Haupthaar, wie man es um 1870 trug. Die Augen waren hellblau, wie mit weiß gemischt, und tränten in den Ecken, als seien sie in den Wind oder Zug gekommen. Nichts Furchteinflößendes, schrecklich Blondes war um diesen Herrn, aber auch nichts besonders Anziehendes. Man hatte den Eindruck, er sei innerlich voll Ruhe, Heimlichkeit und Vorsicht gewesen. Er schien bestrebt, leiser aufzutreten als gewöhnliche Menschen, nicht lauter. Seine zierlichen Lederstiefelchen wirkten fast wie lederne Filzpantoffeln, wenn ich so sagen darf." 63
B: "... (wer) seine schönen, tiefen Augen gesehen, aus denen sich zuweilen Flammen lösen, begreift, daß er nicht als Schriftsteller, sondern vor allem als Mensch zu werten ist, falls man ihm gerecht zu werden wünscht." 64
A: Und eine Möglichkeit, ihm gerecht zu werden, scheint Adolf und Marie Luise Droop die Verfilmung seiner Reiseromane zu sein.
B: "Zwar bleibt wahr: Nichts ist in der Fremde exotisch als der Fremde selbst; doch dieser sieht als bürgerlicher Enthusiast zunächst gar nicht den Alltag der Fremde, am wenigsten will er das Elend in ihr sehen, das ihm den Wechsel auf Schönheit nicht einlöst; er sieht in der Fremde, mit oft heillosem Subjektivismus, sein persönlich mitgebrachtes Wunschbild von ihr. Und dieses allerdings ist meist exotisch genug, entweder so, daß Enttäuschung erfolgt, etwa deshalb, weil Italien nicht aus Lampions besteht, oder so, daß das alte Wunschbild, wenn es die Sache selbst nicht verfehlt, sondern übersteigert hat, neben dem der gewonnenen Erfahrung stehenbleibt, unbelehrt, doch stellenweise auch unenttäuscht." 65
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